Neue Zürcher Zeitung (CH), 10.08. 2000

Kampf für Rechtsstaatlichkeit in der Türkei
Präsident Sezer gegen willkürliche Entlassung von Beamten

Der türkische Präsident hat sein Veto gegen ein umstrittenes Regierungsdekret zur Beschäftigungspolitik eingelegt. Die Regierung hatte ein vereinfachtes Verfahren vorgeschlagen, um Beamte wegen staatsfeindlicher Aktivitäten entlassen zu können. Präsident Sezers Einsatz für Rechtsstaatlichkeit brachte ihm Lob aus allen Bevölkerungskreisen ein.

it. Istanbul, 9. August

Der türkische Präsident Ahmet Necdet Sezer hat am Dienstag völlig überraschend ein Regierungsdekret, das die Entlassung von Staatsangestellten wegen staatsfeindlicher Aktivitäten vereinfachen würde, zurückgewiesen. In einem Rechtsstaat müssten solche Regelungen mit Gesetzen und nicht mit Dekreten erreicht werden, verlautete aus dem Präsidentenpalast in Ankara. Es ist das erste Veto des vor wenigen Monaten gewählten Präsidenten gegen die Regierung Ecevit. Auf diesen Schlag offensichtlich unvorbereitet, reagierten die Koalitionspartner vorerst mit Schweigen. Der Regierungschef Ecevit erklärte lediglich, er werde seine Partner zu einer Sondersitzung einberufen. Der vom neuen Präsidenten seit seinem Amtsantritt stets wiederholte Einsatz für Rechtsstaatlichkeit dürfte auch in Armeekreisen Stirnrunzeln auslösen.

Eine Massnahme gegen die Islamisten

Das Echo der türkischen Presse auf Sezers Veto am Mittwoch war gespalten. «Der erste Konflikt», lautete der Titel der armeefreundlichen Tageszeitung «Hürriyet». Die grosse Mehrheit der Zeitungen hat die Ablehnung des Dekrets mit Erleichterung begrüsst. Die liberale Zeitung «Radikal» schrieb von einer Lektion über die Vormachtstellung des Rechts. Das den Islamisten nahe stehende Blatt «Yeni Safak» feierte den Präsidenten, weil künftig das Recht gegenüber der Politik Vorrang haben werde. Das umstrittene Dekret mit Gesetzeskraft war in der letzten Juliwoche vom Ministerrat präsentiert worden. Es sollte der Regierung ermöglichen, Angestellte im staatlichen Dienstleistungssektor, in der Justiz oder in den Sicherheitskräften, die in Verdacht gerieten, «subversiven, separatistischen oder fundamentalistischen Aktivitäten» nachgegangen zu sein, unter Umgehung aller betreffenden Gesetze zu entlassen. Laut dem Dekret würde ein Bericht von zwei Inspektoren, in dem ein Angestellter als Staatsfeind gebrandmarkt wird, genügen, um die betreffende Person aus dem Staatsdienst lebenslang zu entfernen. Die türkische Anwaltskammer hatte die Massnahme als Praxis bezeichnet, die nur in einem Polizeistaat möglich sei. Bülent Arinc, ein prominenter Abgeordneter der islamistischen Tugendpartei, sprach von einer Machtdemonstration der antieuropäischen Kräfte. Ministerpräsident Ecevit hatte das Dekret seines Kabinetts als eine Fortsetzung der Entscheidungen vom 28. Februar bezeichnet. An diesem Tag hatte die Armeeführung 1997 entschieden, dass die kemalistischen Prinzipien der Republik von der «reaktionären, fundamentalistischen Bewegung» gefährdet seien. Der erste islamistische Regierungschef der Türkei, Necmettin Erbakan, wurde damals zum Rücktritt gezwungen. Wenig später wurde auch eine juristische Verfolgung gegen bekannte Islamisten in Gang gesetzt. Das neue Dekret sollte nun ermöglichen, die Bekämpfungsmassnahmen gegen Fundamentalismus auch im Staatssektor umzusetzen. Der Ministerrat forderte konkret die Einwilligung des Präsidenten, um 535 Personen, die des Fundamentalismus beschuldigt wurden, zu entlassen.

Steigende Popularität des Präsidenten

Der Aufschrei gegen das Dekret war gross. In einer Gesellschaft, in der die Arbeitslosigkeit hoch ist und die sozialen Konflikte keineswegs beigelegt sind, ist es ein Leichtes, als Fundamentalist oder als Separatist abgestempelt zu werden. Mit seiner Ablehnung hat der Präsident die durch das Dekret verunsicherten Angestellten für sich gewonnen. Er habe das einzige Richtige getan, lautete das Urteil der Gewerkschaft der Staatsangestellten. Die linke Arbeitergewerkschaft Disk sprach von einem Beispiel dafür, wie der Rechtsstaat respektiert werde, während die islamistische Gewerkschaft Hak-Is den Sieg des Rechts über die Politik voraussah. Auch in demokratischen regimekritischen Kreisen ist Sezers Popularität gestiegen. Laut dem Kolumnisten der Zeitung «Yeni Binyil», Ali Bayramoglu, hat Sezer ein neues Verständnis eingeführt, das nicht mehr am politischen Profit, sondern an demokratischen Regeln orientiert ist.

Welche Folgen diese Auseinandersetzung zwischen Regierung und Präsidentschaft haben wird, bleibt abzuwarten. Die Regierung Ecevit könnte versuchen, das Dekret auch gegen den Willen des Präsidenten in Kraft zu setzen. Die Verfassung ermöglicht dem Präsidenten aber, das Dekret durch das Verfassungsgericht annullieren zu lassen. Beide Fälle würden einen längeren Konflikt in der Staatsspitze bedeuten. Die Regierung könnte aber auch das Dekret als Gesetzesvorlage dem Parlament vorlegen. Bei der heutigen Konstellation des Parlaments hätte diese Vorlage keinerlei Chancen, als Gesetz verabschiedet zu werden.