Stuttgarter Zeitung, 8.8.2000

Wenn das Gemeindehaus zur Festung wird

Ein Papierschnipsel klebt mit Tesafilm am Briefkasten des Pfarrhauses. "Güler'' - die Handschrift ist der einzige Hinweis auf die kurdische Familie. Zum ersten Mal fordert Pfarrer Helmut Zwanger den Staat offen heraus. Er gewährt der Familie Güler seit Anfang August Kirchenasyl.

"Das ist wie eine kleine Festung. Die Tür ist immer abgeschlossen.'' Pfarrer Helmut Zwanger von der Martinsgemeinde in Tübingen atmet tief durch. "Ich habe die Nacht, bevor die Familie kam, kein Auge zugemacht. Man weiß ja nicht, was passiert.'' In Baden-Württemberg haben evangelische und katholische Kirchen nach eigenen Schätzungen zurzeit mindestens elf Familien in ihrer Obhut.

"Das Problem verschärft sich'', sagt Volker Kaufmann vom Diakonischen Werk Württemberg. "Jeden Monat rufen bis zu 15 Pfarrer an und fragen um Rat wegen Kirchenasyl.'' Die Diakonie gibt die Schuld dem baden-württembergischen Innenministerium. Es lege die Kriterien zur Abschiebung zu eng aus, besonders bei den so genannten Härtefällen. "Hier wird knallhart gesagt, wer keine Arbeit hat, muss raus'', kritisiert Henry von Bose, Geschäftsführer der Diakonie. "In anderen Bundesländern reicht eine Arbeitszusage.'' Das Innenministerium widerspricht: ""Es gibt keine rechtsfreien Räume'', sagte ein Ministeriumssprecher am Montag. "Die Aufgabe der Länder ist es, die Ausreisepflicht durchzusetzen.'' Die Ausländerbehörden und Regierungspräsidien bemühten sich derzeit um Lösungen: "Es ist bisher noch nicht vorgekommen, dass die Polizei auf einem Kirchengelände eingegriffen hat. Ausschließen kann man das jedoch nicht. Es wäre aber sehr bedauerlich, wenn es dazu käme.'' Das Land sei nur ausführendes Organ, sagte der Spreche. Die politische Entscheidung treffe das Bundesamt für die Anerkennung Ausländischer Flüchtlinge.

Pfarrer Zwanger ist skeptisch. "Der Staat ist nicht unfehlbar'', sagt er. Das gelte auch für den Rechtsstaat. Zwanger will Zeit gewinnen. "Vielleicht haben wir ja doch etwas übersehen'', hofft er auf die Richter, falls sie den Fall Güler nochmals unter die Lupe nehmen. Noch sechs weitere Tübinger Kirchengemeinden haben sich inzwischen mit der Familie solidarisiert und sammeln Spenden für deren Unterhalt. Ärzte haben kostenlose Behandlung angeboten.

Die Verwaltungsgerichte in Karlsruhe und Freiburg hatten die Asylanträge der Gülers abgelehnt, weil sie den Folterberichten der Eltern nicht glaubten. Nur der älteste Sohn Ali wurde vor fünf Jahren als Asylant anerkannt und kann sich frei bewegen. Er schläft nicht auf einem der Stahlbetten in den zwei kahlen Zimmern des ehemaligen Messnerhauses in der Gemeinde. Wie seine Geschwister war er in seinem Heimatdorf nahe der syrischen Grenze in der linksgerichteten Partei TDKP und zeitweise auch in der kurdischen Arbeiterpartei PKK aktiv.

"Wenn ich in die Türkei zurückmüsste, würde ich weiter gegen die Folter in dem Staat kämpfen'', gibt sich der jüngere Bruder Ahmed (19) unerschrocken. Angst hat er nun eher vor den deutschen Beamten. "Wenn ein Polizeiauto vorbeifährt, haben wir Panik. Besonders meine Mutter.'' Eingefallen sitzt Hatice Güler auf dem Holzstuhl daneben. Ihre dunklen Augen starren ins Leere. Ein ärztliches Gutachten bescheinigt ihr ein Trauma. "Sie kann nicht über das reden, was sie mit der türkischen Polizei erlebt hat'', entschuldigt Tochter Sultan (26) das Schweigen ihrer Mutter. Auch vor Gericht hatte sie geschwiegen. Ihr Anwalt Manfred Weidmann sieht darin einen möglichen Grund, warum die Verfolgung der Familie den Richtern nicht glaubhaft erschien. "Der Fall Güler ist typisch. Es gibt im Land ein- bis zweihundert solcher Härtefälle'', sagt Weidmann. "Vielleicht ist der Grund für das Kirchenasyl, ein Zeichen zu setzen.'' Zudem seien die Gülers als Familie bekannt, die sich nie strafbar gemacht und sich besonders stark um eine Arbeitsstelle bemüht hätte, meint Weidmann. Ahmed hatte drei Jahre lang eine Lehrstelle. "Als die Genehmigung ablief, wurde mir gekündigt. Aber mein Chef hat gesagt, er würde mich wieder einstellen.''

"Ihnen fällt die Decke auf den Kopf'', sorgt sich Zwanger. "Die Familie muss spazieren und einkaufen gehen dürfen.'' Der Pfarrer hat seine Bedenken überwunden und sogar einen "Kirchenasyl-Ausweis'' mit Familienfoto vorbereitet. Darauf steht die Bitte, die Gülers wieder zurück in die Kirche zu lassen, wenn sie in eine Polizeikontrolle geraten.lsw