Neue Zürcher Zeitung (CH), 8. August 2000

Rückkehr zur Normalität in Südostanatolien

Heikle Entwaffnung der staatstreuen Dorfschützer-Milizen

Die weitgehende Einstellung der Kämpfe im Südosten der Türkei hat den türkischen Staat mit neuen Problemen konfrontiert. Die rund 70 000 Angehörigen von staatstreuen Dorfschützer-Milizen lassen sich nur ungern entwaffnen. Und sie fordern vom Staat finanzielle Abgeltung für ihren Einsatz im langjährigen Kampf gegen die Kurdische Arbeiterpartei.

it. Bismil, Ende Juli

Eine der grössten Hürden für einen reibungslosen Übergang zu friedlichen Zeiten im türkischen Kurdengebiet bilden die vom Staat bewaffneten kurdischen Stämme, bekannt als Korucu, zu übersetzen mit Dorfschützer-Milizen. Das Korucu-System wurde im Jahr 1987 von Hayri Kozakcioglu, dem damaligen Gouverneur des im Ausnahmezustand sich befindenden Südostanatolien, aufgebaut. Kozakcioglu orientierte sich am Beispiel des Sultans Abdulhamid. Genau ein Jahrhundert zuvor hatte der Sultan aus den ihm ergebenen kurdischen Stämmen die sogenannten Hamidiye-Regimente aufgestellt, deren Aufgabe es war, Aufstände von Kurden und Armeniern niederzuschlagen. Die Dorfschützer Kozakcioglus sollten in erster Linie ein wirksames Mittel gegen die Guerilla der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) sein. Die von Ankara bewaffneten Dorfschützer haben oft schwierige Militäroperationen im gebirgigen Länderdreieck zwischen der Türkei, Iran und dem Irak gegen die kurdischen Freischärler ausgeführt. Die Anzahl der Korucu wird heute auf 60 000 bis 70 000 Mann geschätzt. Sie zu entwaffnen und in die zivile Gesellschaft einzugliedern, ist für die türkische Regierung eine echte Herausforderung.

Wenn das Vaterland ruft
Im verschlafenen Städtchen Bismil, rund 50 Kilometer östlich von Diyarbakir, unterhält Arap Koluman, der einflussreichste Korucu-Chef der Region, sein Büro. Der Staat habe 1991 seine Familie aufgerufen, Waffen zu nehmen und das Vaterland zu verteidigen, erzählt er. Seine Familie sei schliesslich für ihre Treue zum Staat und zur Nation bekannt. Paradoxerweise ist der Kurde Koluman ein führendes Mitglied der rechtsextremen Nationalistischen Aktionspartei, welche die Existenz einer kurdischen Nation leugnet und von der Überlegenheit der türkischen Rasse überzeugt ist. Koluman spricht am Telefon kurdisch. Seinen Kindern wolle er aber das Türkische beibringen, unterstreicht er.

Als Dorfschützer hat es Koluman nicht einfach. Bismil gilt seit langem als eine der Hochburgen des kurdischen Nationalismus. Als die PKK 1984 Ankara den Krieg erklärt hatte, zog ein Grossteil der Jugend aus Bismil zu der PKK-Guerilla in die Berge. Einen Krieg, so sagt Koluman gereizt, habe es in Südostanatolien nie gegeben. Ausländische Mächte hätten einige Träumer gegen die türkische Nation aufgehetzt, um die Türkei zu schwächen. Besonders europäische Länder unterstützten die PKK aus Angst vor einer starken türkischen Regionalmacht. Die Türkei opfere aber lieber Hunderte von Märtyrern, bevor sie eine Handbreit Land verschenke. Laut jüngsten Statistiken haben zwischen 1987 und 2000 über 23 000 Kurden ihr Leben im Konflikt verloren. Der hohe Blutzoll macht die Kluft zwischen den Korucu- Milizen und der übrigen Bevölkerung beinahe unüberbrückbar. Die prokurdische Partei Hadep, die mit Abstand grösste politische Formation in Bismil, bezeichnet der Dorfschützer als eine Ansammlung von unzivilisierten Analphabeten und irren Träumern.

Kolumans Vertrauen in die Regierung in Ankara ist neuerdings aber leicht erschüttert. Seit Beginn des Jahres sind im Südosten rund 5000 Dorfschützer wegen krimineller Vergehen verurteilt und bestraft worden. Die Regierung hat Anfang Juli zudem erklärt, die Dorfschützer seien zu entwaffnen. Eine kleine Zahl von ihnen könne in den staatlichen Sicherheitskräften integriert werden. Diese Absicht hat die Dorfschützer verunsichert. Der Staat könne seine Waffen zurückholen, wann immer er wolle, sagt Koluman gekränkt. Die Dorfschützer hätten ohnehin Lizenzen auch für ihre eigenen Waffen. Der Staat müsste aber für den Lebensunterhalt der Armen unter den Dorfschützern aufkommen, bevor irgendwelche Reformen verwirklicht werden könnten. Politisch gemässigte Dorfschützer erwarten konkret, dass den unter 50-Jährigen eine Anstellung beim Staat offeriert wird und die Älteren eine Pension erhalten. Davon versprechen sie sich, ihren während der letzten Jahre erreichten relativen Wohlstand sichern zu können. Die Dorfschützer haben für ihre Dienste von der Regierung den staatlichen Minimallohn von umgerechnet 250 Franken erhalten, was in der völlig verarmten Region ein respektables Gehalt ist.

Enteigneter Bodenbesitz
Stämme wie der Alan-Stamm aus der Region Van lehnen ihre Entwaffnung grundsätzlich ab. Pressekommentatoren vermuten, dass die Familie im türkisch-iranisch-irakischen Grenzdreieck am Schmuggel von Waffen und Drogen beteiligt ist und damit einen enormen Reichtum angehäuft hat. Der Stammesführer Sedat Bucak, der eine Privatarmee von mehreren tausend Dorfschützern unterhielt und seine Heimat Siverek in eine Drehscheibe des Drogenhandels verwandelt hatte, ist im Zuge der Enthüllungen des Susurluk-Skandals berühmt geworden. Ein Einzelfall ist er aber keineswegs. Je mächtiger der Stamm der Dorfschützer sei, desto grösser sei auch dessen Anteil am Kuchen der illegalen Geschäfte gewesen, folgerte nach längeren Recherchen das türkische Politmagazin «Nokta».

Der heikelste Streitpunkt, abgesehen von der Entwaffnung der Dorfschützer, dreht sich um enteignetes Land. Um der PKK die logistische Unterstützung zu entziehen, haben die Armee und die Polizei laut Angaben von Amnesty International über 3000 Dörfer zwangsevakuiert und rund 3 Millionen Personen vertrieben. Der Besitz der Flüchtigen änderte genauso stillschweigend die Hand wie Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Hamidiye-Truppen armenische und assyrische Besitzungen für die kurdischen, dem Sultan ergebenen Fürsten eroberten. So gingen beispielsweise die Häuser kurdischer Nationalisten nach ihrer Vertreibung aus der Stadt Cizre im Jahr 1994 an die Familien von Dorfschützern über. In den Ortschaften Sirnak, Beytüssebab, Uludere und Idil direkt an der Grenze zum Irak, wo die ersten grösseren Zwangsevakuierungen stattgefunden hatten, machten sich die Dorfschützer den besten Landbesitz zu eigen. In Ankara herrscht nun Unklarheit, wie die Besitzfrage gelöst werden kann. Seit der Einstellung der Kämpfe im kurdischen Südosten haben bereits mehrere tausend Flüchtlinge die Rückkehr in ihre Dörfer beantragt.