Frankfurter Rundschau, 8.8.2000

Putsch der Mullahs

Die iranische Bevölkerung stützt ihre Reformer, aber im fundamentalen Konflikt mit den reaktionären Islamisten sind sie ohnmächtig

Von Detlef Franke

Es ist ein Putsch von oben. Nichts anderes stellt der Eingriff des geistlichen Führers Irans, des Ajatollah Sayed Ali Khamenei, in die Arbeit des mehrheitlich mit Reformern besetzten iranischen Parlaments dar. Wie er am Sonntag die Beratung eines liberaleren Pressegesetzes abrupt unterband, ist in der 21-jährigen Geschichte der Islamischen Republik Iran einmalig. Selbst der greise Revolutionsführer Ayatollah Ruhollah Khomeiny, der über die absolute Macht verfügte, erachtete die Madschlis, das iranische Parlament, stets als Ausdruck des Volkswillens und mischte sich nie in die Arbeit der Legislative ein. Die war allerdings während seiner Amtszeit fest in der Hand der Konservativen und bot keinen Anlass zur Intervention.

Durch die Parlamentswahlen vom Februar haben sich die Machtverhältnisse im Gottesstaat verschoben. Dem reformorientierten, im Mai 1997 von einer überwältigenden Mehrheit der Iraner gewählten Präsidenten Mohammad Khatami steht seitdem eine Zwei-Drittel-Mehrheit so genannter Reformer im Parlament zur Seite. Irans Bevölkerung durfte hoffen, dass die immer wieder angekündigten Veränderungen, der allmähliche Umbau der Diktatur der Mullahs zu einer Demokratie und die Hinwendung zu mehr Rechtsstaatlichkeit endlich Wirklichkeit würden.

Doch der fundamentale Konflikt zwischen den reaktionären Kräften um das geistliche Oberhaupt Khamenei und den Reformern, die Khatamis Politik unterstützen, bestimmt weiter den politischen Alltag in Iran. Schon bei der Eröffnung der Madschlis zeigte sich, wie kontrovers die ideologischen Strukturen verlaufen. Während Khatami in seiner Rede besonderes Gewicht auf die demokratische Legitimierung der Macht legte und die Madschlis als die "demokratischste Einrichtung der Islamischen Republik" bezeichnete, ohne deren Zustimmung im Lande keine politische Entscheidung getroffen werden könne, nannte der Wali-e Faqih, Ajatollah Khamenei, in seiner Grußadresse das Parlament "einen festen Bestandteil des Islams und der Revolution".

Diesen immer währenden iranischen Konflikt hat das Staatsoberhaupt jetzt mit der Entmündigung des Parlaments vordergründig für sich entschieden. Wie gefährlich den Mullahs um Khamenei die vom Parlament geplante Liberalisierung des restriktiven Pressegesetzes erscheinen muss, zeigen nicht nur die Verbote von 22 iranischen Zeitungen in den vergangenen Wochen und Monaten. Alarmiernd ist vor allem die Tatsache, dass Khamenei nicht von den legalistischen Möglichkeiten des politischen Systems in Iran Gebrauch gemacht hat. Mit dem Wächterrat, der nicht nur Parlaments- und Ministerkandidaten, sondern auch die vom Parlament beschlossenen Gesetze auf ihre Konformität mit dem Islam zu überprüfen hat, und dem von Ex-Präsident Haschemi Rafsandschani geleiteten "Rat zur Wahrnehmung der Interessen des Regimes" stehen den Mullahs zwei mächtige Gremien zur Verfügung, mit denen sie die Reformer ausbremsen können. Doch offensichtlich erschien der Khamenei-Clique schon eine öffentliche Debatte im Parlament über die Freiheit des Wortes als zu gefährlich.

Der düpierte Präsident, der jüngst seine Kandidatur für die Wiederwahl im Mai 2001 angekündigt hat, steht wieder einmal vor der Frage, wie er auf den Affront reagieren soll. Kaum zu erwarten ist, dass der Schöngeist Khatami, der auf Staatsbesuchen im Ausland großartig klingende Reden über einen "Dialog der Kulturen" halten kann, den offenen Konflikt suchen wird. Trotz der Mordserie an Intellektuellen vor zwei Jahren, der Niederschlagung der Studentenrevolte (deren Teilnehmer noch in Gefängnissen sitzen) und der Kampagne gegen Journalisten, Verleger und fortschrittliche Geistliche (soeben wurde der Reformtheologe Hassan Jussefi Eschkevari inhaftiert) dürfte der Zauderer im Amt des Präsidenten weiter den behutsamen Weg der Reformen im Schneckentempo suchen. Doch es kann den Wählern, die große Hoffnungen auf Veränderungen im Staat der Mullahs hegten, nicht genügen, dass Frauen in Iran wieder die Fußnägel lackieren und statt des Tschadors einen Schal locker über dem Haar tragen dürfen, ohne von den Revolutionswächtern gezüchtigt zu werden.

Mehr als drei Jahre nach der Wahl Khatamis und über ein halbes Jahr nach den Parlamentswahlen stehen die Reformer in Iran noch immer vor den Toren der Macht. Es ist ihnen weder gelungen, Rechtssicherheit herzustellen, noch die Inflation zu stoppen, die große Arbeitslosigkeit zu verringern, ja überhaupt die kränkelnde Wirtschaft in Gang zu bringen. Die Ohnmacht der fortschrittlichen Kräfte ist am Sonntag deutlich zu Tage getreten, als ihr wichtigster Reformansatz im Keim erstickt wurde. Mohammad Khatami hat nun eigentlich keine andere Möglichkeit mehr, als eindeutiger als bisher die Auseinandersetzung mit den Reaktionären im Gewand der Mullahs zu wagen. Die Bevölkerung Irans steht hinter den Reformern, das haben die Wahlen gezeigt. Doch wenn deren Hoffnungen weiterhin enttäuscht werden, könnten in der iranischen Opposition radikalere Kräfte die Oberhand gewinnen und das Land ins Chaos stürzen.