Neue Zürcher Zeitung (CH), 03.08.2000

Internet-Cafés anstelle von Mordbrigaden

Der zerbrechliche Frieden im kurdischen Südosten der Türkei

Von unserer Türkei-Korrespondentin Amalia van Gent

Im mehrheitlich von Kurden bewohnten Südosten der Türkei sind erstmals seit mehr als anderthalb Jahrzehnten des blutigen Krieges zwischen dem türkischen Staat und den Kämpfern der Kurdischen Arbeiterpartei Anzeichen einer Normalisierung zu erkennen. Die Ursachen des Kurdenkonfliktes sind aber weiterhin nicht beseitigt.

Diyarbakir, im Juli Es ist erstaunlich, wie friedlich und verändert die südostanatolische Metropole Diyarbakir in diesen Tagen wirkt. Tagsüber feilschen unzählige Strassenverkäufer mit ihren Kunden über den Preis ihrer auf den Trottoirs ausgebreiteten farbigen Waren. Am Abend spazieren junge Paare unbeschwert durch die staubigen Strassen, während die begüterte Männerwelt in den grünen Gärten der Restaurants sich von den Stimmen üppiger Sängerinnen bis spät in die Nacht berauschen lässt. Vor nicht allzu langer Zeit signalisierte der Sonnenuntergang den Beginn eines inoffiziellen, von der Mehrheit der Bevölkerung aber respektierten nächtlichen Ausgangsverbots. Nach Einbruch der Dunkelheit wurden die Gassen der Aussenviertel zum Kampffeld, wo sich Angehörige der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Mitglieder der Sicherheitskräfte und Anhänger der diversen Flügel des islamistischen türkischen Hizbullah blutige Kämpfe lieferten. Kurdische Oppositionelle, unter ihnen Anwälte und Abgeordnete, Journalisten und Schriftsteller, fielen den Schüssen der sogenannten anonymen Attentäter zum Opfer. Heute sitzen viele junge Männer in Internet-Cafés. Nirgendwo sonst in der Türkei sei die Zahl der Internet-Cafés so hoch und der Drang nach Kontakt mit der Aussenwelt so gross wie hier, sagen die Einheimischen.

Keinen Schritt näher gerückt
Der Krieg sei zu Ende, sagt ein Mitglied des türkischen Menschenrechtsvereins. Als Folge davon sei die Zahl der anonymen Morde im letzten Jahr um 95 Prozent zurückgegangen. Die Einstellung der Kampfhandlungen hat im Alltag Diyarbakirs eine Normalisierung bewirkt. Doch eine Annäherung zwischen der kurdischen Bevölkerung, welche die Anerkennung ihrer Identität beansprucht, und den Vertretern des Staates, die befürchten, jede Reform in der Minderheitenfrage könnte den nationalen Charakter der Republik verändern, ist nicht eingetreten. Wie zuvor ist der Südosten in zwei Welten getrennt, die zwar Seite an Seite leben, sich aber dennoch fremd bleiben. Die Unterschiede beginnen bereits bei der Frage, wie der Krieg beendet wurde. Von offizieller Seite wird dies auf die militärische Niederlage der PKK zurückgeführt. Auf türkischem Territorium gebe es höchstens noch 500 PKK-Guerilleros, erklärte vor kurzem die Armeeführung, die in diesem Konflikt der unumstrittene Sieger zu sein glaubt. Die Kurden begründen die Einstellung der Kämpfe hingegen mit dem «Friedensangebot» des inhaftierten PKK-Vorsitzenden Öcalan. Dieser hatte vor einem Jahr aus seiner Zelle auf der Gefängnisinsel Imrali einen einseitigen Waffenstillstand und den Abzug der Guerilla aus der Türkei verordnet. Kurden, die der PKK kritisch gegenüberstehen, räumen ein, dass die Guerilla militärisch angeschlagen ist. Doch von einer Niederlage wollen auch sie nicht sprechen.

So unterscheidet sich auch das Lösungskonzept türkischer Politiker zur Überwindung des Konflikts grundlegend von der Vorstellung der Kurden. Was Ankara vorschwebt, offenbarte der Regierungschef Ecevit, als er Mitte Juni Diyarbakir besuchte. Alle Völker, die im Laufe der Jahrhunderte in den geographischen Raum Anatolien - das entspricht faktisch dem Territorium der heutigen Türkei - emigrierten oder sich dort niederliessen, hätten sich schon immer als Türken bezeichnet, erläuterte der türkische Altpolitiker seinem kurdischen Publikum. Parteien, die sich auf eine andere ethnische Identität berufen, bezeichnete er kurzum als rassistisch. Damit meinte Ecevit in erster Linie die Demokratie-Partei des Volkes (Hadep), die als einzige legale Partei die offiziell geleugnete Identität der schätzungsweise 12 Millionen Kurden in der Türkei verteidigt.

Die Hadep hatte 1999 bei den letzten Kommunalwahlen in 37 wichtigen Gemeinden des Südostens mit teilweise über 70 Prozent der Stimmen gewonnen und stellt seither in diesen Orten die Bürgermeister, so auch in Diyarbakir. Die türkische Presse interpretierte damals das Wahlresultat als Beweis dafür, dass die Wähler nach dem 15-jährigen Krieg nun wüssten, sie seien eben Kurden und keine Türken. Ecevit aber scheint auf der alten Staatsräson zu beharren. Der politische Separatismus sei genauso gefährlich wie der bewaffnete, sagte er. Er versprach ausgerechnet in Diyarbakir, das Feld nicht der Hadep zu überlassen. Kurz bevor der Regierungschef den Südosten besucht hatte, herrschte im Amt des Bürgermeisters in Diyarbakir grosse Aufregung. Es bestanden Hoffnungen, Ankara könnte im Südosten einen neuen Weg einschlagen. Ecevit besuchte dann in der kurdischen Metropole den Gouverneur sowie die Führung der Sicherheitskräfte. Den Bürgermeister, Feridun Celik, ignorierte er aber. Die zwei Männer haben sich nicht getroffen.

Repression und wirtschaftlicher Engpass
Kurz nach der Rede Ecevits wurde der Hadep- Bürgermeister des Städtchens Özalp, Salih Haktan, per Dekret des Innenministeriums vorläufig seines Amtes enthoben; ohne Angabe von Gründen für diese Massnahme. Ende Juni wurden bei Polizeirazzien landesweit zudem über 50 Hadep- Mitglieder verhaftet. In Diyarbakir stürmten am 10. Juli Polizeikräfte die Hadep-Büros und nahmen 15 Mitglieder, unter ihnen auch die Parteiführung, fest. An dem Tag gedachte die Partei des ermordeten prominenten kurdischen Intellektuellen Vedat Aydin, der 1991 von anonymen Tätern umgebracht worden war. Während der Trauerfeier sollen laut Polizei die Anwesenden «Freiheit - Brüderlichkeit» und «Freiheit für Öcalan» skandiert haben.

Diyarbakirs stellvertretender Bürgermeister, Ahmet Gezen, mag sich zur politischen Lage nicht öffentlich äussern. So beschränkt er das Gespräch auf die wirtschaftliche Situation der 37 Gemeinden mit einer Hadep-Verwaltung. Demnach erhält jede Gemeinde der Türkei staatliche Gelder, deren Höhe von der Zahl ihrer Bürger abhängt. Die Einnahmen der Gemeinde Diyarbakir werden gemäss der letzten Volkszählung aus dem Jahr 1991 berechnet, als die Stadtbevölkerung noch rund 500 000 Personen zählte. Wegen des Kriegs seien, so Gezen, aber rund 3000 Dörfer zwangsevakuiert worden, was die Stadtbevölkerung auf anderthalb Millionen wachsen liess. Die Zuschüsse aus Ankara seien demnach um das Dreifache zu tief. Von dieser Summe ziehe die Regierung zudem die Schulden ab, die unter dem vorangegangenen Bürgermeister angehäuft worden seien. Die Einnahmen Diyarbakirs reichten gerade so weit, um die Löhne der Angestellten zu zahlen. In den Aussenvierteln der Metropole aber vegetierten die Flüchtlinge aus den zerstörten Dörfern dahin, oft befänden sich bis zu drei Familien in einer einzigen Behausung, ohne Elektrizität, ohne Kanalisation und ohne Zufahrtsstrasse, in manchen Fällen auch ohne Zugang zu sauberem Wasser. Krankheiten und Hunger bestimmten den Alltag. Ohne moralische und finanzielle Hilfe aus Ankara könne die Gemeinde wenig zur Linderung der Not beitragen. Lediglich ein Projekt zur Wasseraufbereitung werde verwirklicht - dank einem Kredit deutscher Banken in der Höhe von knapp 40 Millionen Mark.

Eine tickende Zeitbombe?
Der Staat sei stur, sagt ein Händler im Basar Diyarbakirs. Ankara habe während 15 Jahren Krieg geführt und 150 Milliarden Dollar vergeudet, nur um die Identität der Kurden nicht anzuerkennen. Dabei hätte man mit diesem Geld eine neue Türkei kaufen können. Stattdessen aber liegt die lokale Wirtschaft darnieder. Die Arbeitslosigkeit wird in der Region auf weit über 50 Prozent geschätzt. «Wir sitzen auf einer Zeitbombe», stellt der Basarhändler ernüchtert fest. Zahlreiche andere Gesprächspartner klammern sich vorerst noch an die verzweifelte Hoffnung, dass die Europäische Union Ankara zu Reformen bewegen könnte. Erwartet wird die Zulassung kurdischsprachiger Radio- und Fernsehstationen sowie die Anerkennung des Kurdischen als Unterrichtssprache an den Schulen. Ferner soll die Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Dörfer ermöglicht und eine Normalisierung in ganz Südostanatolien erreicht werden, wo seit über zwei Jahrzehnten nur mit Dekreten und Kriegsgesetzen regiert wird. Die Forderungen sind der von Öcalan proklamierten «politischen Lösung der Kurdenfrage» auffallend ähnlich und werden von Ankara diskussionslos abgelehnt.

Die Händler im Basar Diyarbakirs hoffen indessen, dass ihre Stadt mit den byzantinischen Mauern aus schwarzem Basalt, den armenischen und assyrischen Kirchen und den seldschukischen Moscheen nach dem Ende des Kriegs nun wieder Touristen anziehen wird. Interessierten Besuchern, die sich hierher begeben, kann es allerdings passieren, dass sie sich unversehens in ständiger Begleitung einer Gruppe von Sicherheitsbeamten befinden. Deren Präsenz erfolge ausschliesslich zum eigenen Schutz, heisst es. Doch den Besuchern wird subtil zu verstehen gegeben, dass sie hier nicht wirklich erwünscht sind. Diesbezüglich hat sich in Diyarbakir wenig verändert.