Süddeutsche Zeitung, 4.8.2000

Flüchtlingsschutz ist modern

UNHCR: Einwanderung und Asyl schließen sich nicht aus

Von Jean-Noël Wetterwald

Seit Oktober 1998 leitet der Schweizer Jean-Noël Wetterwald die deutsche UNHCR-Vertretung des "Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen" in Deutschland. Für den 44-jährigen gelernten Juristen, der zuvor in Ostasien, in Südamerika und im ehemaligen Jugoslawien millionenfaches Flüchtlingsleid erlebte, ist die deutsche Asyldebatte unverständlich. Auf keinen Fall dürften die Begriffe "Einwanderung" und "Asyl" gegeneinander ausgespielt werden.

Asyl und Einwanderung: Ein Begriffspaar, das in den vergangenen Jahren praktisch synonym gebraucht wurde. Oft genug wurden Fragen des Flüchtlingsschutzes vornehmlich unter dem Aspekt der Einwanderungskontrolle diskutiert. In der jüngsten deutschen Diskussion hat sich diese Konstellation jedoch verändert. Unter dem Stichwort "Modernisierung" findet tendenziell ein Paradigmenwechsel statt. Geburtenrückgang, Expertenmangel und Überalterung lassen den vormals negativ besetzten Begriff "Einwanderung auch bei Skeptikern in einem neuen positiven Licht erscheinen. So weit, so gut. Bedenklich wird es, wenn diese als modern verstandene Aufgeschlossenheit einher geht mit einer deutlichen Geringschätzung gegenüber der Institution des Asyls. Manchem Protagonisten der Debatte gilt sie als lästiges Versatzstück der Vergangenheit, untauglich, den dynamischen neuen Entwicklungen Rechnung zu tragen.

Diese Kritiker übergehen die Tatsache, dass heute weiterhin Flucht und Vertreibung durch religiös, ethnisch oder politisch motivierte Verfolgung und damit verbundene massive Menschenrechtsverletzungen überall auf der Welt an der Tagesordnung sind. Sie verkennen darüber hinaus den völkerrechtlichen Rahmen, in dem die Institution des Asyls eingebettet ist. Der Unterschied ist einfach und zugleich von fundamentaler Bedeutung: Einwanderung dient dem Interesse und Bedarf eines Staates. Asyl richtet sich hingegen nach dem Kriterium der Schutzbedürftigkeit. Für Einwanderung gibt es keine spezifischen völkerrechtlichen Grundlagen und damit einhergehende Verpflichtungen. Der Flüchtlingsschutz ist hingegen in internationalen Abkommen geregelt. In diesem Zusammenhang bleibt die Genfer Flüchtlingskonvention die Magna Charta des internationalen Flüchtlingsrechts. Das Abkommen manifestiert den Übergang des Asylrechts vom staatlichen Gnadenakt hin zum individuellen Schutzanspruch. Wer die Konventionen unterzeichnet, verpflichtet sich zugleich, Verfahren zur Überprüfung der Flüchtlingseigenschaft durchzuführen. Andernfalls läuft ein Staat Gefahr, bei Abweisung oder Zurückweisung von Schutzsuchenden permanent gegen die Konvention zu verstoßen.

Die geplante Asyl-Harmonisierung in der EU soll, so das erklärte Ziel der Regierungschefs, auf der vollständigen und umfassenden Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention stattfinden. Bei ihrem Gipfeltreffen im finnischen Tampere (Oktober 1999) hoben sie die Bedeutung des Flüchtlingsschutzes für die EU und ihre Mitgliedstaaten hervor. Dies bedeutet ein uneingeschränktes Bekenntnis zum individuellen Asylrecht und entsprechend ausgestaltetes Verfahren. Vor diesem Hintergrund sollte die Debatte um Asyl und Einwanderung nicht unter falschen Vorzeichen geführt werden. Es kann nicht darum gehen, mit der Institution des Asyls vermeintlich alte Zöpfe abzuschneiden. Das Gegenteil ist richtig: Der individuelle Flüchtlingsschutz ist eine Errungenschaft der Moderne. Und dies gilt eben nicht nur für Deutschland.

Fixpunkt der Asyldebatte ist hier zu Lande die nationale Vergangenheit. Dabei wird allzu oft übersehen, dass das individuelle Asylrecht zur Grundsubstanz der meisten Demokratien gehört. Die Europäische Union versteht sich als Wertegemeinschaft. Da ist es nur selbstverständlich, dass der Flüchtlingsschutz auch bei der laufenden Diskussion um die EU-Charta der Grundrechte eine wichtige Rolle spielt. Ein modernes Europa ohne Asylrecht - das wäre ein Rückfall in vergangene Zeiten.

Der Flüchtlingsschutz ist keine beliebige Variable, sondern ein Grundwert, der nicht auf ökonomischen Überlegungen beruht. Interessen und Werte miteina nder zu vereinbaren - gewiss kein unmögliches Unterfangen. Bundespräsident Johannes Rau hat in seiner Berliner Rede hierzu klare Worte gefunden: Einwanderung und Asyl schließen sich nicht aus. Modelle hierfür gibt es genug. Die Mühe der Differenzierung lohnt.