Stuttgarter Zeitung, 31.7.2000

Einwanderung und Asyl

Die Macht der Fakten

Mitglieder der von Bundesinnenminister Otto Schily berufenen Einwanderungskommission streiten sich schon im Vorfeld der Beratungen über den Zusammenhang von Asyl und Zuwanderung. Die Vorsitzende, die CDU-Politikerin Rita Süssmuth, erklärt, das Gremium habe nicht den Auftrag, das Grundrecht auf Asyl abzuschaffen. Das DGB-Vorstandsmitglied Putzhammer, ebenfalls Mitglied der Kommission, pflichtet ihr bei, das Grundrecht müsse voll erhalten bleiben und dürfe nicht mit der Zuwanderung aus wirtschaftlichen Gründen verknüpft werden. Auch Bundespräsident Rau hat sich eingeschaltet und mehrfach gefordert, das Asylrecht dürfe nicht angetastet werden.

Solche Äußerungen sind in- und außerhalb der Kommission auf Widerspruch gestoßen. Es dürfe bei den Beratungen kein Tabu geben, weil Asyl und Einwanderung sehr wohl mit einander zu tun hätten. Otto Schily selbst hat unlängst gesagt: "Die Praxis zeigt jeden Tag aufs Neue, dass Asyl und Zuwanderung sich in unserem System verknäulen.'' Das sieht, noch bevor die Kommission ihre Arbeit in der Sache aufgenommen hat, nach einem neuen Glaubenskrieg um das Asylrecht aus, wie ihn die Bundesrepublik schon mehrfach erlebt hat.

Klärend wirkt in solchen Fällen ein Blick auf die Fakten. In den fünfziger und bis in die sechziger Jahre hinein spielte die Asylrechtsgarantie des Grundgesetzes so gut wie keine Rolle. Die wenigen Flüchtlinge, die sich darauf beriefen, kamen aus dem Ostblock. Nach 1963 gab es überraschend eine starke Zunahme jugoslawischer Asylsuchender - jährlich bis zu viertausend -, die denn auch in den folgenden Jahren rund sechzig Prozent aller Asylbewerber stellten. Die Jugoslawen waren die ersten, die durch das Tor des Artikels 16 Anschluss an den Gastarbeiterstrom finden wollten, dem sich damals die Bundesrepublik geöffnet hatte. Zunächst waren die Jugoslawen davon ausgeschlossen, weil mangels diplomatischer Beziehungen eine Gastarbeitervereinbarung mit dem Tito-Staat bis 1968 fehlte. Die soziale Eingliederung der Flüchtlinge blieb weithin problemlos. Im Strom der fast vier Millionen Gastarbeiter nebst Angehörigen, die zwischen 1960 und 1973 ins Land kamen, fielen die Asylbewerber nicht auf.

Doch der im November 1973 verfügte Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer veränderte die Situation schlagartig. Die Zahl der Asylbewerber stieg sprunghaft an und erreichte 1980 die Hunderttausendgrenze. War bis zum Anwerbestopp rund eine Million türkischer Gastarbeiter gekommen, stellten sie nun den größten Teil der Bewerber. Über das Asylrecht ließ sich der Anwerbestopp leicht umgehen. Anders gesagt: das Asylgrundrecht wurde zum Einwanderungsrecht für Arbeitsuchende und ihre Angehörigen. Da Asylverfahren damals im Schnitt fast sechs Jahre dauerten, konnten die abgelehnten Bewerber nicht mehr guten Gewissens zurückgeschickt werden.

Das Grundrecht auf Asyl war das Tor, das jeder Ausländer mit der Behauptung öffnen konnte, politisch verfolgt zu sein. Und auch das Schlepperwesen blühte damals schon: 1977 kamen rund sechzig Prozent der Zuwanderer mit Hilfe von Schleuserbanden ins Land. Gegen die Entwertung des Asylrechts zum reinen Zugangsrecht erhoben sich kritische Stimmen. Bundeskanzler Helmut Schmidt, Wolfgang Zeidler, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, und Horst Sendler, Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, forderten eine Beschränkung des Asylrechts, drangen aber gegen dessen Verteidiger in den Parteien, Medien und Kirchen nicht durch. Asyl wurde zur politischen Glaubensangelegenheit.

Die Verteidiger wollten und wollen bis heute nicht erkennen, dass die Entwicklung, die 1992 zu mehr als vierhunderttausend Bewerbern führte, zu Lasten der tatsächlich Verfolgten geht. Eine kontrollierte Einwanderung, die sich an den Interessen des aufnehmenden Staates orientiert, war und ist unter den Bedingungen des Artikels 16 nicht möglich. Das Asylgrundrecht ist dem Staat vorgegeben. Er kann allenfalls über das Verfahrensrecht ein wenig steuern. Erlässt der Staat ein Einwanderungsgesetz, mit dem er qualitative Maßstäbe an die Zuwanderer anlegt und auch deren Zahl festlegt, muss er damit rechnen, dass die Zahl der Asylbewerber, die nach der Reform von 1993 auf derzeit 90000 gesunken ist, rasch wieder ansteigt. Das ist die Lehre aus dem Anwerbestopp.

Schily hat den Zusammenhang erkannt, wenn er "mit ehrlichem Blick auf die Wirklichkeit'' sagt: "Wer sich nur als politischer Flüchtling ausgibt, um hier zu arbeiten, sollte nicht durch die Asyl-, sondern durch die Einwanderungstür kommen.'' Wer aber Zuwanderung steuern will, darf sich nicht die Entscheidung aus der Hand nehmen lassen, wer kommen darf und wer nicht. Ob man das in der Kommission auch so sehen wird?Von Werner Birkenmaier