DER STANDARD (A), 29./30. Juli 2000

Europa ist ein Einwanderungsland

Die Innenminister der EU beraten über eine gemeinsame Immigrationspolitik

Jörg Wojahn

Marseille/Wien - Mindestens 47,5 Millionen Einwanderer müsste Europa bis zum Jahr 2050 aufnehmen, um den anhaltenden Bevölkerungsrückgang auszugleichen. Mit dieser Prognose will der Franzose Jean Pierre Chevènement zwischen seinen Innenministerkollegen aus den anderen EU-Staaten eine Grundsatzdiskussion über eine langfristige europäische Einwanderungspolitik anstoßen.

Der Öffentlichkeit müsse klar gesagt werden, dass Europa ein Einwanderungsland ist, in dem sich in Zukunft verschiedene Kulturen vermischen würden, heißt es weiter in dem Thesenpapier, das die französische Ratspräsidentschaft zur Vorbereitung des zweitägigen, informellen EU-Innenministertreffens vorlegte, das am gestrigen Freitag in Marseille begann. Die Konferenz bereitet die offizielle EU-Ratssitzung Ende November vor, auf der konkret über neue Richtlinien für eine gemeinsame Asyl- und Einwanderungspolitik gesprochen werden soll.

In Marseille präsentiert Frankreich drei Projekte, die es verwirklichen will: Erstens eine Verschärfung des Kampfes gegen illegale Einwanderung, insbesondere durch europaweit härtere Strafen für Menschenschmuggler. Zweitens die bessere Integration von legalen Einwanderern, unter anderem durch eine Harmonisierung des Aufenthaltsrechts in der EU. Zum dritten eine Vereinheitlichung der Asylgesetzgebung.

Entsprechend dem Wunsch Chevènements befassen sich die Minister in Marseille auch mit der Anwerbung von Fachkräften aus Nicht-EU-Staaten. Über die wird zurzeit in vielen europäischen Ländern diskutiert - und nicht nur in den reicheren: Am Mittwoch verabschiedete das Parlament im traditionellen Auswanderungsland Portugal eine Neuregelung, die für Ausländer, die einen Arbeitsvertrag nachweisen können, den Aufenthalt erheblich erleichtert. Gleichzeitig wurde ein Gesetz erlassen, das Unternehmern Strafe androht, die illegale Einwanderer beschäftigen. Auch die Strafandrohung für Schlepper wurde erhöht.

Damit sich solche - und andere - Straftäter nicht unbehelligt in einen anderen EU-Staat zurückziehen können, steht in Marseille auch die gegenseitige Anerkennung von Strafurteilen auf der Agenda.