junge Welt, 29.07.2000

Gericht stoppte Abschiebung

16jährige Kurdin Gülcan Turgan darf vorerst in Deutschland bleiben

»Wir freuen uns, daß im Flugzeug nach Istanbul heute ein Platz frei blieb«, meinte Marcus Reinert vom Arbeitskreis Asyl in Frankfurt (Oder) am gestrigen Freitag. Das Ticket für diesen Flug war für Gülcan Turgan bestimmt, doch die Abschiebung der 16jährigen Kurdin, die in der Türkei nach eigenen Angaben mit Verhaftung und Folter zu rechnen hätte, fand nicht statt. Mit einer einstweiligen Anordnung setzte das Frankfurter Verwaltungsgericht den Beschluß der Ausländerbehörde außer Vollzug - so lange, bis die Klage von Gülcan Turgan gegen die Ablehnung eines Asylfolgeverfahrens rechtskräftig beschieden ist.

Das Gericht konnte nicht ausschließen, daß eine Gefahr für das Mädchen besteht, wenn sie ohne Schutz in der Türkei einträfe. Auch die von den deutschen Gerichten angenommene sogenannte inländische Fluchtalternative greife möglicherweise nicht, wenn die türkischen Sicherheitsbehörden bereits Kenntnis von den exilpolitischen Aktivitäten Gülcans und ihres ohnehin in seiner Heimat verfolgten Bruders genommen haben. Schließlich sei zu klären, wie ein minderjähriges Mädchen aus den Notstandsprovinzen in der Osttürkei im Westen des Landes überhaupt seinen Lebensunterhalt bestreiten sollte. Der Beschluß des Verwaltungsgerichts ist aufgrund einer Regelung des Asylgesetzes nicht anfechtbar.

»Strahlend, aber nicht überschwenglich« habe Gülcan die Nachricht aufgenommen, berichtete Asylberaterin Sabine Grauel vom Paritätischen Wohlfahrtsverband. »Ich hatte große Angst, zurück zu müssen«, gestand das Mädchen. »Aber sehr viele Leute haben sich für mich eingesetzt, und der Verein Utopia hat mich nie allein gelassen.« Allein in der vergangenen Woche hatten sich mehr als 1 000 Frankfurter mit ihrer Unterschrift für einen Verbleib Gülcan Turgans in Deutschland eingesetzt. Die Absicht, eine seit viereinhalb Jahren in Frankfurt (Oder) lebende Mitbürgerin möglicherweise in türkischen Folterkellern enden zu lassen, hatte im gesamten Bundesgebiet zu Protesten geführt. Land- , Bundestags- und Europaabgeordnete hatten sich an den Innenminister der Bundesrepublik, Brandenburgs Innenminister und weitere Verantwortungsträger mit der Forderung gewandt, den Fall neu zu prüfen. Die Mehrheit der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung verabschiedete eine Resolution, in der alle Frankfurter aufgefordert wurden, sich mit Gülcan Turgan zu solidarisieren. Der sozialdemokratische Bürgermeister Detlef Heino Ewert, der zwar »Mitleid« artikulierte, für die Frankfurter Ausländerbehörde aber keinen Handlungsspielraum sah, fand sich in der eigenen Partei isoliert.

Inzwischen hat die Behörde ihren Spielraum wiederentdeckt. Gülcan, die sich in den Ferien nach einem Ausbildungsplatz umsehen wollte, weil sie im nächsten Jahr die zehnte Klasse abzuschließen hofft, bekam mit der neuen Duldung auch ein Ausbildungs- und Studienverbot. »Auch darüber wird rechtlich zu befinden sein«, meinte Sabine Grauel, die in der Auflage der Frankfurter Ausländerbehörde ein Signal sieht, »daß man Gülcan eben doch nicht so gern in Frankfurt (Oder) hat. Ich weiß auch nicht, wie diese Sache ausgegangen wäre ohne die große Öffentlichkeit. Es gibt sehr viele Fälle, die im Stillen und mit weniger gutem Ausgang ablaufen.« Allein im vergangenen Jahr seien aus Frankfurt (Oder) mehr als 350 Menschen abgeschoben worden, darunter auch drei Türken.

Martin Zippendorf