Die Welt, 27.7.2000

Türkei debattiert erstmals über die Macht ihrer Armee

Ein taktisches Wort mit Folgen: Generalstabschef selbst spricht von möglicher Zivilisierung des Nationalen Sicherheitsrats Von Evangelos Antonaros

Athen - Der türkische Generalstabschef Hüsyin Kivrikoglu hat einen "Schritt in die richtige Richtung" getan, wie hochrangige politische Köpfe in Ankara meinen, von "einer wichtigen Stellungnahme" sprach gestern Ministerpräsident Bülent Ecevit. Der Militär, bislang nicht bekannt für eine Neigung zu politischem Pluralismus, hatte eine mögliche Aufweichung der innenpolitischen Verkrustungen der Türkei angedeutet, als er betonte, dass das Militär nichts gegen die Aufnahme von weiteren Zivilisten in den bisher praktisch von Soldaten beherrschten, einflussreichen Nationalen Sicherheitsrat (MGK) hätte. "Auch 100 Zivilisten können dem MGK angehören. Mir wurde diese Frage von der Regierung gestellt, und ich habe ihnen geantwortet: Wir werden keine Einwände erheben", sagte der mächtige Fünf-Sterne-General. Kivrikoglus Äußerung ist die Antwort auf die Empfehlung eines Regierungsgremiums, das Reformen zur Vorbereitung der Türkei auf die Aufnahme in die Europäische Union ausgearbeitet hatte. Unter anderem war die Erweiterung des MGK um drei zivile Minister angeregt worden. Auch wurde die Frage aufgeworfen, ob die Schlüsselposition des MGK-Generalsekretärs, der die Tagesordnung vorbereitet und für die Umsetzung der dort vereinbarten "Empfehlungen" sorgt, künftig von einem Zivilisten bekleidet werden sollte. Diesem wohl politisch brisantesten Punkt ist Kivrikoglu allerdings ausgewichen.

Nicht nur deshalb wirft die neue Flexibilität der um den Erhalt ihrer Macht besorgten Generäle viele Fragen auf. Kivrikoglu hat betont, dass Änderungen bei der Zusammensetzung dieses Spitzengremiums, das der Regierung wichtige Entscheidungen vorwegnimmt beziehungsweise Beschlüsse hinter verschlossenen Türen korrigiert, kaum praktische Folgen hätten: "Bei den MGK-Sitzungen wird nie abgestimmt. Jeder trägt seine Ansicht vor, und der Staatspräsident als Vorsitzender fasst im Konsens alles zusammen. Bei 34 Sitzungen, an denen ich teilgenommen habe, ist es immer so gewesen." Kivrikoglu ließ also die Politiker zwischen den Zeilen wissen, dass er mit Blick auf die EU-Hoffnungen der Türkei bestenfalls zu kosmetischen Änderungen bereit wäre.

Der General stellte somit klar, dass der MGK wenigstens nach seiner Ansicht auch nach dem Einzug weiterer Zivilisten genauso wie bisher funktionieren sollte. Er hat laut Verfassung Empfehlungen zu formulieren, die in der Praxis jedoch für die Politiker immer verbindlich sind. Das Militär bliebe weiterhin Garant für die Prinzipien - wie Zentralismus und Laizismus -, auf denen die moderne Türkei errichtet worden ist. Von einem Primat der Politik, wie er in westlichen Demokratien üblich ist, kann nicht die Rede sein.

Obwohl Kivrikoglus Worte vor diesem Hintergrund politisch nur begrenzt relevant und eher als taktische Flucht nach vorn zu werten sind, bringen sie dennoch einen Stein ins Rollen. Denn zum ersten Mal wird das Tabuthema der türkischen Politik zum öffentlichen Diskussionsgegenstand gemacht: Die Rolle des Militärs im türkischen Machtgefüge, die viele westliche Beobachter als die größte Hürde der Türkei auf dem Weg zur EU-Integration betrachten, ist bisher ein zu heißes Eisen gewesen, das so gut wie kein Politiker oder Journalist anfassen wollte.

Der politische Einfluss der Generalität bleibt bis auf weiteres sehr groß: So haben die höchsten Offiziere neulich im Hintergrund dafür gesorgt, dass die ebenfalls mit Blick auf die EU erwogene Abschaffung von Gummiparagrafen, die nicht staatskonforme Gesinnung unter Strafe stellen, gebremst wurde. Aber Kivrikoglus taktischer Schachzug hat eine Diskussion ausgelöst, die nach Ansicht eines westlichen Diplomaten "kaum noch zu stoppen" sein wird.