junge welt, 25.07.2000

Flugticket ins Gefängnis

Frankfurt/Oder schiebt junge Kurdin ab. Mahnwache für Gülcan Turgan

Nächstes Jahr wollte Gülcan Turgan die 10. Klasse absolvieren und eine Ausbildung beginnen. Es gab Hoffnungszeichen dafür. So hatte sie kein Arbeitsverbot, und die Duldung wurde zum 16. Geburtstag nicht aufgehoben. Um so schwerer traf die Kurdin der Brief von der Ausländerbehörde der Stadt Frankfurt an der Oder , die ihr am 17. Juli mitteilte, daß ihr Rückflug bereits gebucht ist: Flug 1724 ab Tegel am 28. Juli 2000. »Gründe, die einer Aufenthaltsbeendigung entgegenstehen, sind nicht erkennbar«, heißt es in dem Schreiben.

»Wenn ich in die Türkei komme, werden sie mich verhaften«, ist Gülcan überzeugt. Als ihre Eltern vor viereinhalb Jahren zur Flucht mit Bruder und Schwägerin rieten, hatten sie gewichtige Gründe. Gülcans Schwester Firaz sitzt inzwischen zum Tode verurteilt im Todestrakt von Diyarbakir. Ihr Bruder Imam wird gesucht. Vielleicht steht auch sie längst auf der schwarzen Liste, denn in Deutschland hat Gülcan sich vernehmlich für die Rechte der Kurden eingesetzt.

Als am vergangenen Freitag in der Frankfurter City eine Mahnwache begann, gehörten Grit Strnad und ihre Tochter Nora zu den ersten, die diese Initiative des Vereins Utopia, des Arbeitskreises Asyl und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes unterstützten. »Ich habe versucht, Gülcan vor den rassistischen Sprüchen in unserer Klasse in Schutz zu nehmen. Das kenne ich ja alles selber. Sogar von einem Polizisten wurde ich schon als Kanake beschimpft«, erzählt Nora, eine in Deutschland geborene Kurdin. »Ihr Vater wurde abgeschoben, als meine Schwangerschaft 1984 sichtbar wurde«, ergänzt Grit Strnad. »Die DDR hat mit dem Irak gegen die Kurden gekungelt, die BRD kungelt mit der Türkei. Mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke, was Gülcan passieren könnte. Noras Vater war selbst ein Folteropfer...«

1999 legte die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl eine Dokumentation von 19 Fällen vor, in denen Kurden nach ihrer Abschiebung in die Türkei Repressionen ausgesetzt waren - bis hin zu Folter und Toderurteilen. »Inzwischen sind 13 weitere Fälle hinzugekommen«, widerspricht Asylberaterin Sabine Grauel dem Frankfurter Bürgermeister Detlef Heino Ewert, der sich im Streit um die Abschiebung darauf beruft, daß »die Situation sich in den vergangenen Jahren nach Auskunft des Außenministeriums deutlich entspannt« habe. Die Stadt, so Ewert, müsse nach Recht und Gesetz verfahren. »Die vorhandenen Spielräume haben wir ausgeschöpft.«

»Falsch«, meint Sabine Grauel und verweist auf Paragraph 55 des Ausländergesetzes, in dem »dringende humanitäre Gründe« geltend gemacht werden können, um einen Verbleib zu ermöglichen. Aber auch sie weiß, daß seit der Übernahme des brandenburgischen Innenministeriums durch Jörg Schönbohm (CDU) »brutalere Abschiebungen als vorher« an der Tagesordnung sind.

Heute werden mehr als 400 Unterschriften an Bürgermeister Ewert übergeben. Die Mahnwache besteht bis Freitag fort, dem Tag ihrer Abschiebung. Eine Fürbitte für Gülcan Turgan wird es morgen im Stadtzentrum geben. Auch mit der Kirche werden Gespräche geführt, um Gülcan vor Verhaftung, Folter und Vergewaltigung zu schützen.

Martin Zippendorf