Bremer Nachrichten online, 22.7.2000

Über die "wehrhafte Demokratie" à la turca

Von unserer Korrespondentin Susanne Güsten

Türkischer Generalstaatsanwalt zieht per Bestseller gegen diverse angebliche Staatsfeinde zu Felde

Istanbul. Wenn in der Türkei ein Buch innerhalb von einer Woche 12000 Mal verkauft wird, dann ist seinem Autor in dem traditionell sehr lesefaulen Land ein sensationeller Beststeller gelungen. Doch nicht die Abenteuer von Kinder-Held Harry Potter gehen in den türkischen Buchläden weg wie warme Semmeln, sondern das Glaubensbekenntnis von Generalstaatsanwalt Vural Savas, dem Ober-Hardliner der türkischen Justiz. "Militante Demokratie gegen Fundamentalismus und Separatismus", heißt der Titel des 507 Seiten starken Bandes. Savas versucht, darin den Beweis zu führen, dass radikale Islamisten, kurdische Rebellen und nicht zuletzt das Ausland ständig und überall den arglosen türkischen Staat belauern, um ihn zu zerstören. Deshalb, so Savas, muss sich der Staat wehren; und als Vorbild hat sich Savas ausgerechnet Deutschland und das Konzept der "wehrhaften Demokratie" ausgesucht.

Der eigentliche Wert des Anfang Juli erschienenen Buches liegt darin, dass es einen Einblick in die Geisteshaltung konservativer Kreise in Ankara gewährt, die den Kurs der Türkei - auch in der Europapolitik - zum großen Teil bestimmen. Diese Haltung wird von der Annahme geprägt, dass die türkische Republik 77 Jahre nach ihrer Gründung noch immer schwach und von Feinden umringt ist und sich deshalb nicht den Luxus von uneingeschränkten Grundrechten leisten kann. Hinter "glänzenden Verpackungen" wie der Forderung nach Vorrang des Individuums vor dem Staat verberge sich die wahre Absicht der Feinde: die Zerstörung der Türkei Atatürks.

Savas macht keinen Hehl daraus, dass er als Staatsanwalt die von ihm zu bearbeitenden Fälle nicht mit dem distanzierten Blick des Juristen, sondern mit dem Sendungsbewusstsein eines Kriegers betrachtet: "Ich bin parteiisch, ich stehe in der Reihe jener Kräfte, die die laizistische und demokratische Republik verteidigen - und da bleibe ich auch." Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass Savas, der 1998 das Verbot der islamistischen Wohlfahrtspartei durchsetzte, jetzt mit Hochdruck die Auflösung von deren Nachfolgeorganisation, der Tugendpartei, betreibt. Ebenso wenig überrascht, dass Savas den von der türkischen Regierung im Zuge der Annäherung an die EU angepeilten Reformen in Sachen Demokratie nichts abgewinnen kann. Im Gegenteil: Die derzeitigen Gesetze in der Türkei reichen seiner Ansicht nach nicht aus; er fordert eine Verschärfung der Vorschriften.

Feinde der Republik lauern laut Savas vor allem im Ausland. Sogar in den Vertretungen der parteinahen Stiftungen aus Deutschland in der Türkei sieht er den Feind. Ausführlich zitiert er aus Zeitungsartikeln, in denen den Stiftungen vorgeworfen wird, sie wollten den kurdischen Separatisten helfen. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten im Weltbild von Savas, dass er dieselbe Bundesrepublik, der er vorwirft, über die Parteistiftungen den Dolchstoß gegen die Türkei zu führen, gleichzeitig als Vorbild für seine eigene Vorstellung von Demokratie heranzieht. Im Vorwort seines Buches bezieht er sich auf das Bonner Grundgesetz; zitiert werden auch die deutschen Anti-Terror-Gesetze. Savas' Grundthese lautet: Keine Demokratie kann hinnehmen, dass sie von ihren Feinden zerstört wird.

Doch Savas pickt sich nur die ihm genehmen Rosinen heraus; er benutzt den Hinweis auf die deutschen Gesetze und ähnliche Vorschriften in anderen westlichen Staaten lediglich zur Rechtfertigung seiner eigenen Haltung: Auch die europäischen Demokratien sehen Einschränkungen der Grundrechte vor, wenn es um den Erhalt des Staates geht - warum sollte das in der Türkei anders sein? Auf die im Westen immer wieder heftig diskutierten Grundfragen - wo die freie Meinungsäußerung aufhört und die staatsfeindliche Bedrohung beginnt, unter welchen Umständen der Staat die Freiheiten seiner Bürger einschränken darf und wer den Staat dabei kontrolliert - geht Savas nicht ein. Mit gutem Grund, denn dies würde Zweifel an seiner eigenen Haltung nähren, wonach der Staat alles darf, was er für richtig hält.