Göttinger Tagblatt, 21.7.2000

Struktur wie die Mafia: Jeder misstraut jedem

Einerseits gab es enge Zusammenarbeit, andererseits Misstrauen untereinander und nunmehr massive Bedrohungen gegen Angehörige des aussagewilligen Angeklagten. Der Angeklagte steht seit der Ankündigung einer Aussage unter Zeugenschutz. Die Staatsanwaltschaft glaubt Beweise zu haben, dass ihm massiv gedroht wurde. Seinen Angehörigen kann der Schutz nicht helfen. In der vergangenen Woche sei seinem Schwiegervater im Irak damit bedroht worden, den in Dänemark lebenden Bruder zu töten, falls der Göttinger aussage. Das habe ein in Norwegen lebender Onkel berichtet, sagt der Angeklagte. Irak, Göttingen, Dänemark, Norwegen - die Schauplätze spiegeln den Weg der kurdischen Flüchtlinge und das Netz der Organisation wider. Auf dem Landweg sollen die Kurden nach Deutschland gekommen sein. Ärzte sollen in der Heimat errechnet haben, was sie an Proviant in die verschlossenen Lkw mitnehmen müssen, um zu überleben. In Göttingen sammelten sich die Menschen in einer Wohnung im Zedernweg 4 in Weende. Der geständige Angeklagte schilderte fünf Schleuserfahrten mit Lastwagen, in denen bis zu 27 Menschen nach Dänemark gebracht wurden. Damit räumt er sogar eine Fahrt ein, von der bisher nichts bekannt war. Andere Schleuser organisierten den Weitertransport. Als die Göttinger Gruppe aufgeflogen war, wurden in zwei Staubsaugern Preislisten über die Schleusungen (Dänemark 1100, Schweden 1600, Norwegen 2000 Dollar) gefunden. Außerdem Abrechnungen über Zahlungen. Der aussagende Göttinger will erst im April 1999 aktiv geworden sein. Mutmaßungen, dass er sich eingekauft habe, bestätigt er nicht. Er behauptet, "gedrängt und ausgenutzt" worden zu sein. Er sei nur Randfigur. Die beiden Brüder im Angeklagten-Quartett hätten das Sagen gehabt. Er belastet beide schwer. Auch mit der Aussage, einer der Brüder habe bündelweise Geld in Sicherheit gebracht, als die Polizei das erste Mal die Wohnung im Zedernweg durchsuchte und zwei Dutzend Illegale fand. Auch will er für 150 Mark einen falschen Pass bei den Brüdern gekauft haben. Nach der Polizeiaktion wurde ein weiterer Transport von Kassel aus organisiert. Weil die Brüder sich gegenseitig misstrauten, habe der eine hinter dem Rücken des anderen einen Transport mit einem anderen Schleuser von Kiel aus nach Dänemark organisiert. Wie Ware werden die Kunden der Schleuser beschrieben: "Sechs haben K. gehört, andere A." Er selbst will keine eigenen Kunden gehabt haben. Am Montag sagt er weiter aus.

Jürgen Gückel, Göttingen