Neue Ruhr Zeitung, 19.7.2000

Knackpunkt Kurdenfrage

Ankara (NRZ). "Schwere Hausaufgaben", maulte das türkische Massenblatt "Hürriyet" gestern über die Anforderungen der EU: Die Union verlange von der Türkei, die kurdische Sprache völlig freizugeben, berichtete das Blatt über die Gespräche von EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen in Ankara. Vize-Premier Devlet Bahceli biss prompt an: "Ungehörige" Forderungen seien das, polterte er. Und Ministerpräsident Bülent Ecevit erklärte empört, ihm habe Verheugen nichts von kurdischen Rechten gesagt - "zumindest habe ich nichts davon gehört". Dabei wissen beide Politiker sehr gut, was bei der Vorbereitung auf die EU-Integration auf die Türkei zukommt - da sind kurdische Sprachrechte noch das Geringste.

Seit letzter Woche hat die türkische Regierung es von den eigenen Experten schwarz auf weiß, dass Verfassung und Gesetzgebung des Landes komplett auseinandergeschraubt und neu zusammengesetzt werden müssen, wenn aus dem EU-Beitritt etwas werden soll. Dabei sind sich die Fachleute in Ankara und Brüssel in fast allen Punkten einig darüber, was in der Türkei noch alles geschehen muss. Der Bericht der türkischen Regierungskommission, die intern die Voraussetzungen für die EU-Annäherung zu klären hatte, entspricht weitgehend Verheugens Vorstellungen über die "Beitrittspartnerschaft", ein Dokument, das die EU im Herbst offiziell als Anforderungsliste an die Türkei vorlegen wird. Dutzende Verfassungsänderungen und die Reform aller Gesetzbücher hält die türkische Kommission für unerlässlich, um den EU-Kriterien genügen zu können.

Ihr Bericht lässt kein heißes Eisen liegen - mit einer Ausnahme: Was den Minderheitenschutz betreffe, so könne man es wohl auch mit individuellen Freiheitsrechten bewenden lassen, heißt es da - ein Standpunkt, dem die EU nicht zustimmen kann, denn der Minderheitenschutz gehört zu den Kopenhagener Kriterien. Die Kurdenfrage avanciert zum Knackpunkt zwischen Ankara und Brüssel, was - trotz Ecevits Gedächtnislücken - auch bei Verheugens Besuch deutlich wurde: Obwohl Brüssel sogar die Umschreibung der Kurdenfrage als "Lösung der Probleme im Südosten" anbot, will Ankara höchstens von einer "Disparität der Regionen" sprechen. Die Wortklauberei legt nahe, dass die türkische Politik noch immer glaubt, bei der EU-Integration mit papierenen Reformen davonkommen zu können.

Von SUSANNE GÜSTEN