Salzburger Nachrichten (A), 17.7.2000

Rute der EU in Ankaras Fenster

Die EU verspricht der Türkei zwar mehr Geld für die Anpassung, fordert aber gleichzeitig grundlegende und rasche Reformen zur Annäherung an Europa.

BIRGIT CERHA NIKOSIA (SN).

Günther Verheugen gab sich zuversichtlich und höchst diplomatisch. Er sei glücklich, betont der für die EU-Erweiterung zuständige Europakommissar bei Gesprächen in Ankara, über türkische Fortschritte zur Anpassung an die EU-Kriterien. Die EU habe die Finanzhilfe zur Unterstützung des Reformprozesses auf 180 Mill. Euro (2,5 Mrd. S) für dieses Jahr verdoppelt.

Doch im kleinen Kreis klingt das anders: Die Türkei habe seit ihrer Anerkennung als EU-Bewerber im vergangenen Dezember schon viel Zeit verloren, ohne dass der Reformprozess richtig in Gang gekommen wäre. Es gebe einen "politischen Stillstand" in der Türkei, kritisierte Verheugen am Freitag vor Journalisten. Der EU-Kommissar forderte Ankara dabei auf, mit symbolträchtigen Entscheidungen Reformfähigkeit zu beweisen.

Erfolge in der Wirtschaft, Problem Bürgerrechte

Bis Oktober will die EU das "Beitritts-Partnerschafts-Abkommen" erarbeiten, das die von Ankara noch zu erfüllenden Bedingungen für den Beginn der Aufnahmeverhandlungen auflisten wird. Die Türken müssen ihre Liste von Reformen präsentieren, die sie zur Erfüllung der Kopenhagener Kriterien (von der EU für ihre Mitglieder festgesetzten politischen und ökonomischen Standards) realisieren will. In Wahrheit aber sieht die Bilanz des bisherigen Anpassungsprozesses äußerst mager aus.

Während die Türkei auf dem Wirtschaftssektor die größten Erfolge aller 13 Aufnahmekandidaten erzielte, hinkt sie in der Frage der Demokratisierung beängstigend nach. Der einzige Fortschritt, den Ankara in diesem Bereich im vergangenen Halbjahr erzielte, ist der Beginn einer lebhaften Debatte in der Öffentlichkeit selbst über Themen, die bisher als tabu gegolten hatten: die Rolle der Militärs, heikle Fragen der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit. Präsident Sezer drängte das Parlament Anfang Juli zu raschen Verfassungsreformen, um die Demokratisierung voranzutreiben.

Ein Mangel an politischer Führung gegenüber Europa und heftige Auseinandersetzung innerhalb des Staatsapparates über das Ausmaß der von der EU geforderten Reformen lassen das von Ankara ehrgeizig als Ziel gesetzte Beitrittsdatum 2004 als unerfüllbar erscheinen. Die Entscheidung Premier Ecevits, seinen Vorgänger und Juniorpartner in der Koalition, Mesut Yilmaz, als stellvertretenden Minister ins Kabinett aufzunehmen und die Führung der EU-Politik zu übertragen, ermutigt zwar Europafreunde am Bosporus.

Yilmaz knüpfte die Übernahme dieser neuen Funktion an die Zusage Ecevits, dass ihn die Regierung voll bei der Erfüllung der Kopenhagener Kriterien unterstützen werde. Während der auf dem diplomatischen Parkett Europas bewanderte Yilmaz selbst zu den entschlossensten Verfechtern der EU-Mitgliedschaft zählt, gibt es in den Reihen der "Demokratischen Linkspartei" Ecevits und dessen großem Koalitionspartner, der "Partei der nationalistischen Bewegung" (MHP), beträchtlichen Widerstand gegen Brüssel.

Unter Nationalisten, wie auch im Militär hegt man bis heute eine ausgeprägte Abneigung gegen alles, was wie Einmischung des Auslandes aussieht. "Mächtige Kräfte innerhalb dieser Gesellschaft sind äußerst misstrauisch gegenüber Europa", schrieb jüngst das Massenblatt "Star". "Sie können den Anpassungsprozess drastisch verzögern, und genau das tun sie derzeit." So sprach der "Nationale Sicherheitsrat" (das von den Militärs dominierte höchste Entscheidungsorgan) jüngst von "subjektiven und exzessiven Demokratisierungsforderungen" der EU, die die "nationale Einheit" der Türkei zerstören würden.

Wie stets stellt sich die Kurdenfrage als Hauptproblem. Während Außenminister Cem eben beteuerte, dass es niemals in diesem Lande ethnische Minderheiten gegeben hätte, stellte auch der Nationale Sicherheitsrat klar, dass die Kurden nicht auf die auch von der EU erwünschte Anerkennung als Minderheit hoffen könnten, ja nicht einmal auf Radio und Fernsehen oder Schulen in ihrer Sprache.

Politik und Gesellschaft müssen umdenken

Auch zur Abschaffung der Todesstrafe - ein weiteres Hauptanliegen Brüssels - konnte sich Ankara bisher ebenso wenig durchringen, wie zur Annullierung des die Meinungsfreiheit krass einschränkenden Strafrechtsparagrafen 312, auf dessen Basis Hunderte Islamisten, Kurden, linksgerichtete Politiker und Menschenrechtsaktivisten zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden - zuletzt der islamistische Ex-Premier Erbakan. Es wäre möglich, betonte Justizminister Turk jüngst, einige Passagen dieses Paragrafen neu zu formulieren. An eine totale Abschaffung sei aber nicht zu denken.

Dennoch, für die Mehrheit des türkischen Establishments ist der EU-Beitritt ein strategisches Ziel, das auch - laut einer jüngsten Umfrage - die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch Realisten glauben, dass es für die nötigen Reformen noch eines langwierigen Umdenkungsprozesses bedarf.