Bremer Nachrichten, 17.7.2000

"Tag der Abrechnung naht"

EU-Beitritt: Türkei steht unter Druck, Reformen anzupacken

Von unserer Korrespondentin Susanne Güsten

Ankara. Die Zeit drängt. Innerhalb von zwei Monaten muss Ankara in Sachen Europa Farbe bekennen: "Bis Ende September will die EU von der Türkei klipp und klar hören, wie die politischen Reformen verwirklicht werden sollen", sagte ein türkischer Regierungsvertreter am Rande des Besuchs von EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen in der türkischen Hauptstadt. Verheugen machte in seinen Gesprächen deutlich, dass sich die Türkei europapolitisches Nichtstun wie in den vergangenen Monaten nicht mehr lange leisten kann. In Ankara herrsche politischer Stillstand, klagte er. Vor allem in sensiblen Bereichen wie den Menschenrechten, bei denen sich die Türkei bisher vor Entscheidungen herumgedrückt hat, müsse etwas geschehen. Die Europäer erwarteten den politischen Willen und die Entschlossenheit der Türken, gegen Menschenrechtsverletzungen vorzugehen.

"Der Tag der Abrechnung ist nah", meint der prominente türkische Journalist Mehmet Ali Birand. Seit der Anerkennung der Türkei als EU-Beitrittskandidat im vergangenen Jahr schleicht die Regierung von Ministerpräsident Bülent Ecevit um die Kernprobleme herum wie die Katze um den heißen Brei.

Doch im Herbst will Brüssel in einem Dokument zur Beitrittspartnerschaft festhalten, was die Türkei tun muss, um die politischen, wirtschaftlichen und verwaltungstechnischen Europa-Kriterien zu erfüllen. Kurz darauf soll die Türkei selbst einen Fahrplan für die Umsetzung der geforderten Reformen vorlegen. Das setzt die Regierung unter gehörigen Zeitdruck, zumal sich die Koalition über das Ausmaß der Zugeständnisse, die an Europa gemacht werden sollen, noch nicht einig ist. Äußeres Zeichen dafür, dass Teile der Regierung der EU gegenüber zumindest Desinteresse an den Tag legen, war die Tatsache, dass der Chef der rechtsnationalen Koalitionspartei MHP, Devlet Bahceli, ein Treffen mit Verheugen ablehnte.

Im Gespräch mit Verheugen gaben sich die türkischen Regierungspolitiker zwar Mühe, ihren Reformwillen zu bekunden. Die EU-Mitgliedschaft sei das wichtigste Projekt der Türkei, sagte der frisch gebackene Europa-Minister und frühere Ministerpräsident Mesut Yilmaz, der sich mit Verheugen auf Deutsch unterhielt. Auch Ecevit sagte, der Türkei sei klar, dass sie wie die anderen Bewerberstaaten die Kopenhagener Kriterien in Sachen Demokratie und Menschenrechte erfüllen müsse.

Doch bisher gesteht Ecevits Regierung sich selbst und der Öffentlichkeit nicht ein, dass dies auf eine Neuordnung des türkischen Staates in wichtigen Bereichen hinauslaufen wird. Statt dessen streiten sich Yilmaz und Außenminister Ismail Cem um die Kompetenzverteilung in der Europapolitik.

Seit der Anerkennung als EU-Beitrittskandidatin beim Gipfel von Helsinki im Dezember habe es auf dem Gebiet der Menschenrechte keine positiven Entwicklungen gegeben, sagte Verheugen bei seinem Treffen mit Vertretern türkischer Menschenrechtsorganisationen. "Die Türkei verliert Zeit", warnte der EU-Kommissar am Rande seines Besuchs deshalb. Schon jetzt habe die Türkei fast ein Jahr vergeudet.

Verheugen rief die Türken auf, mit einigen Symbolhandlungen den Stillstand auf politischer Ebene zu überwinden. Mit einer Zulassung der kurdischen Sprache, der Aufhebung des Ausnahmezustands im Kurdengebiet oder einer Amnestie für alle Häftlinge, die wegen so genannter Gedankenverbrechen hinter Gittern sitzen, könne Ankara seinen Reformwillen demonstrieren.

Als ausgesprochen positive Entwicklung hielt Verheugen fest, dass die Vorgespräche über das Beitrittspartnerschafts-Dokument wie auch die administrativen Kontakte zur Vorbereitung auf die Integration der Türkei in die EU problemlos laufen. Verheugen hofft, dem Integrationsprozess auf diese Art ein "Momentum" zu geben, damit dieser eines Tages eine Eigendynamik entwickelt.