Freie Presse, 15.07.2000

Verheugen kritisiert "Stillstand" in der Türkei EU-Komissar verlangt Beweise für Reformfähigkeit

Die Türkei hat nach Einschätzung von EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen seit ihrer Anerkennung als EU-Bewerber im vergangenen Dezember schon viel Zeit verloren, ohne dass der Reformprozess richtig in Gang gekommen wäre. Es gebe einen "politischen Stillstand" in der Türkei, kritisierte Verheugen am Freitag am Rande eines Besuches in Ankara vor Journalisten. Verheugen sprach in der türkischen Hauptstadt unter anderem mit Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer und dem neuen Europa-Minister Mesut Yilmaz. Zum Abschluss seines Besuches traf er sich am Nachmittag mit Ministerpräsident Bülent Ecevit, der eine rasche Erfüllung der EU-Kriterien voraussagte.

Verheugen forderte Ankara auf, mit symbolträchtigen Entscheidungen Reformfähigkeit zu beweisen. Als Beispiele nannte er eine Amnestie für die so genannten Meinungsdelikte, eine Beendigung des Kriegsrechts im kurdisch besiedelten Südosten der Türkei und eine Zulassung der kurdischen Sprache.

Streit unter den türkischen Koalitionspartnern und die zeitaufwendige Suche nach einem neuen Staatspräsidenten hatten die türkische Europapolitik im Frühjahr lange Zeit gelähmt. Wegen der derzeitigen Sommerpause des türkischen Parlaments können Gesetzesänderungen zur Anpassung an die EU-Normen jetzt erst wieder im Oktober verabschiedet werden. Die EU fordert von der Türkei schon seit längerem Reformen im politischen System, im Bereich der Menschenrechte und in der Justiz, unter anderem die Aufhebung der Todesstrafe.

Ecevit sagte nach seinem Treffen mit dem EU-Erweiterungskommissar, die Türkei werde die Bedingungen für eine Aufnahme in die EU rascher als erwartet erfüllen, weil diese Bedingungen den Zielen entsprächen, die sich das Land selbst gesetzt habe. Ecevit hatte in den vergangenen Monaten mehrmals das Jahr 2004 als Zeitpunkt eines türkischen EU-Beitritts genannt. Bei der EU, aber auch bei türkischen Beobachtern gilt dieser Termin als unrealistisch. (AFP)