Hamburger Abendblatt 14.07.2000

Viel Ehrgeiz für Europa

Die Türkei bereitet sich auf den Beitritt vor - Streit um die Todesstrafe

Von MARLIES FISCHER Ankara/Hamburg - Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union (EU) und dem EU-Beitrittskandidaten Türkei sind nach Angaben von EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen auf einem guten Weg. "Wir stimmen überein, dass sich die Beziehungen stufenweise verbessern", sagte Verheugen gestern in der zentralanatolischen Stadt Kayseri bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem türkischen Außenminister Ismail Cem. Die Gespräche seien sehr offen und konstruktiv verlaufen. "Jetzt ist die Zeit für echte, harte Arbeit gekommen", meinte Verheugen. Heute trifft er den neuen Staatspräsidenten Ahmet Necdet Sezer, Ministerpräsident Bülent Ecevit und Menschenrechtsminister Rüstü Kazim Yücelen in Ankara. Die Türkei war im Dezember 1999 auf dem EU-Gipfel in Helsinki nach langen Jahren des Wartens als Beitrittskandidat akzeptiert worden. Seitdem hat das Land am Bosporus, das durch die Zollunion von 1995 bereits stark in den europäischen Wirtschaftsraum eingebunden ist, vor allem ökonomische Reformen angepackt. So sank die Inflationsrate von 63 Prozent im Jahre 1999 auf momentan 27 Prozent. Außerdem werden die sozialen Sicherungssysteme überarbeitet. Vom nächsten Jahr an soll die Arbeitslosenversicherung eingeführt werden. Beschlossen wurde bereits eine Rentenreform. Bisher konnten Frauen nach 15 und Männer nach 20 Arbeitsjahren Rente beziehen. Jetzt gilt ein Mindestalter bei Frauen von 55 und bei Männern von 60 Jahren, bevor es Altersbezüge gibt. Auch Außenminister Ismail Cem betonte die vielen Übereinstimmungen zwischen der EU und seinem Land und lobte die ökonomischen Reformen. Allerdings musste er aus "bekannten und bestimmten Gründen" Verzögerungen bei den Menschenrechtsfragen einräumen. Dieses Thema ist der größte Stolperstein auf dem Weg Richtung Europa. Ministerpräsident Ecevit hat zwar vor kurzem angekündigt, seine Regierung werde im Spätsommer über die Aufhebung der Todesstrafe beraten. Bisher konnte er sich bei diesem Thema aber nicht gegen seinen Koalitionspartner, die rechtsnationale Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), durchsetzen. Die MHP möchte die Todesstrafe noch gegen den wegen Hochverrats verurteilten PKK-Chef Abdullah Öcalan vollstrecken und dann abschaffen. Mittlerweile machen sich aber auch das mächtige türkische Militär und Präsident Sezer für die Abschaffung der Todesstrafe stark. Seinen zweiten Koalitionspartner, die Mutterlandspartei (Anap), hat Ecevit seit gestern noch enger mit im EU-Boot. Parteichef Mesut Yilmaz wurde zum stellvertretenden Ministerpräsidenten und Staatsminister ernannt. Der 53-Jährige soll sich als innenpolitischer Koordinator um die Annäherung der Türkei an die EU kümmern. Bei außenpolitischen EU-Fragen ist weiterhin Minister Cem zuständig. Politische Beobachter sehen diese Personalie mit gemischten Gefühlen. "Ich befürchte, das Verhältnis zwischen Yilmaz und Cem wird nicht gerade harmonisch sein", sagte Lars Peter Schmidt, Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ankara, dem Abendblatt. "Yilmaz will sich wieder profilieren und das Gewicht seiner Partei einsetzen." Im Übrigen sei das Image des Anap-Politikers, so Schmidt, auf europäischer Ebene angekratzt. In seiner Zeit als Ministerpräsident hatte Yilmaz 1997 und 1998 für Wirbel gesorgt, als er die Bundesregierung unter dem damaligen Kanzler Kohl für die ablehnende Haltung der EU gegenüber der Türkei verantwortlich machte. Bisher hatte Yilmaz wegen gegen ihn erhobener Korruptions- und Amtsmissbrauchs-Vorwürfe keinen Posten in der Regierung übernommen. Das Parlament hatte vor kurzem entschieden, dass Yilmaz sich wegen der Vorwürfe nicht vor dem Obersten Gericht verantworten muss.