Die Welt, 10.7.2000

Chatami im Lande des Sittenverfalls

Die Gegner des iranischen Präsidenten blicken sehr genau nach Berlin und warten nur auf einen Anlass, ihn zu diskreditieren

Von Evangelos Antonaros

Teheran - Gewollt hat er diese Reise seit Beginn seiner Amtszeit vor drei Jahren. Die außenpolitische Öffnung des Iran ist ein Eckstein der Transformationspolitik von Mohammed Chatami und ein Dorn im Auge der konservativen Machtelite, die ihre Besitzstände sichern und kein Risiko eingehen will. Daher verfolgen sie unumwunden eine Obstruktionspolitik, auch und gerade nach dem Wahlsieg der Reformer bei den Parlamentswahlen vom 18. Februar. Ausgerechnet eine Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung mit 17 iranischen Persönlichkeiten aus Politik, Medien, Kultur, Wissenschaft und Religion im April in Berlin nahmen sie zum Anlass, den "Verfall der Sitten" und die "Abkehr von den islamischen Moralwerten" anzuprangern. Politische Freunde Chatamis wurden dabei gefilmt, wie sie am Rande der Diskussionen lachten, sangen und tanzten, manche Frauen hatten den Kopf unbedeckt. Die Bilder wurden im iranischen Staatsfernsehen gezeigt, einer Bastion des islamischen Konservativismus. Damit sollte die moralische und politische Autorität des Staatschefs infrage gestellt werden.

Viele der in Berlin gefilmten Chatami-Anhänger wurden nach ihrer Rückkehr in den Iran verhaftet. So sitzt der gefeierte Enthüllungsjournalist Akbar Gandschi, der als erster die Querverbindungen zwischen den Hardlinern und den Geheimdiensten belegen konnte, noch immer im Gefängnis. Der ebenfalls bekannte Journalist Hamid Reza Djalaipur (siehe Beitrag auf dieser Seite) ist inzwischen wieder frei und wartet auf seinen Prozess. Den angesehenen Reformanwälten Schirin Ebadi und Mohsen Rahami wird in diesen Tagen hinter verschlossenen Türen der Prozess gemacht, weil sie Machenschaften der Konservativen nachweisen konnten.

Das Parlament ist trotz einer klaren Mehrheit der Reformer bisher nicht in der Lage gewesen, Presse- und Meinungsfreiheit im Sinne Chatamis gesetzlich abzusichern. Der Staatschef selbst ist sich der Gefahren seines politischen Seiltanzes bewusst, denn im Iran geht es weniger um die Verabschiedung als um die Umsetzung von Gesetzen, wofür letztendlich in den wichtigsten Bereichen weiterhin Exponenten der Hardliner verantwortlich sind. Die Ungeduld in der Bevölkerung wächst, vor allem unter den Jugendlichen und den Frauen. Ihnen geht Chatamis Reformtempo zu langsam. Manche halten sein Schlagwort von einer "zivilen Gesellschaft" - also die Einführung demokratischer, für alle verbindlicher Verhaltensregeln sowie die Respektierung der Menschen- und Bürgerrechte - für eine Worthülse.

Aber der Staatschef weiß nur zu gut, welche Gefahren drohen, wenn er zu schnell vorangeht. Seinen mächtigen Widersachern genügt ein kleiner Anlass, um ihn zu entmachten. Beinahe wäre es im Juli vergangenen Jahres so weit gewesen, als Studentenunruhen an der Universität von Teheran fast außer Kontrolle gerieten.

Daher wird der Jahrestag der Studentenproteste betont zurückhaltend begangen: An den Toren zu allen Universitäten Teherans wollen die Hochschüler in diesen Tagen Blumen an Passanten verteilen, drei prominente Journalisten haben im Gefängnis aus Solidarität mit den Studenten einen zweitägigen Hungerstreik begonnen.

In Chatamis drittem Amtsjahr steht fest: Die Reformen werden im politischen Bereich, wenn überhaupt, nur langsam und behutsam vorangehen können. Die überfällige Wirtschaftsreform aber könnte sich schneller realisieren lassen: Durch Privatisierungen und die Schaffung von Anreizen für ausländische Investoren. Das brächte Arbeitsplätze und nähme dem sozialen Druck die Spitze. Günstig gestaltet sich auch die Ölpreisentwicklung, die Staatskassen sind mit einem Leistungsbilanz-Überschuss von 3,5 Milliarden Dollar so voll wie seit Jahren nicht mehr. Doch in der Wirtschaft sind Chatamis Gegner genau so mächtig wie in der Politik.