Neue Zürcher Zeitung (CH), 8. Juli 2000

Mühevoller Kampf gegen das Schlepperunwesen

Besuch beim Bundesgrenzschutz an der bayrischen Ostgrenze

Der deutsche Bundesgrenzschutz ist in Bayern zuständig für die Sicherung der"grünen Grenze" zu Tschechien. Fast täglich werden hier illegal einreisende Personen aufgegriffen. Der grösste Teil von ihnen kommt aus Osteuropa, doch werden in jüngster Zeit vermehrt auch Personen aus allen Teilen Asiens festgenommen. Mafiose Organisationen haben das Schleppergeschäft als lukrative Einkommensquelle entdeckt.

spl. Furth im Wald, Ende Mai

Bei der Bundesgrenzschutzinspektion (BGSI) in Furth im Wald herrscht reger Betrieb. In der vorangegangenen Nacht wurden nahe der bayrisch-tschechischen Grenze elf afghanische Staatsbürger aufgegriffen. Die Beamten gehen davon aus, dass die illegal Eingereisten den weiten Weg nicht auf eigene Faust in Angriff genommen haben. Die Suche nach Schleusern hat deshalb höchste Priorität. Doch können bis zum Morgen keine verdächtigen Personen entdeckt werden. Nun geht es darum festzustellen, an welcher Stelle die Aufgegriffenen die Grenze überschritten haben. Ein Helikopter-Team macht sich bei Tagesanbruch an die Arbeit. Die beiden Piloten glauben am Ende eines gerne für Grenzübertritte benutzten Waldstückes eine Spur zu erkennen.
Am Mittag fliegen wir noch einmal über die Stelle, um Beweisaufnahmen zu machen. Die Spuren sind im hohen Gras tatsächlich deutlich zu erkennen.

Schwer kontrollierbares Gelände
Obwohl es logisch erscheint, dass so nahe der Grenze aufgegriffene Personen aus der Tschechischen Republik kommen, genügt diese Tatsache allein noch nicht für eine Rückführung. Zumal die Festgenommenen oft behaupten, aus Frankreich oder Italien gekommen zu sein. Kann wie hier aber ein Beweis in Form von Fussspuren erbracht werden, werden die Aufgegriffenen, da Tschechien als sicherer Drittstaat gilt, in wenigen Tagen schon schon dorthin zurückgeschafft werden.

Von Hof bis Passau erstreckt sich die 356 Kilometer lange Grenze zwischen Bayern und der Tschechei. Mit dem Fall des Eisernen Vorhanges 1989 hat dieser Landstrich eine ganz neue Bedeutung erlangt. Denn sozusagen über Nacht ist aus einem von Osten her hermetisch abgeriegelten Sperrgebiet ein relativ durchlässiger Grenzstreifen geworden. Die Sicherheitsmassnahmen mussten entsprechend drastisch erhöht werden. Anders als in allen anderen deutschen Ländern, wo der dem Bundesinnenministerium unterstellte Bundesgrenzschutz (BGS) allein für die Sicherung der Aussengrenzen zuständig ist, ist in Bayern traditionell die bayrische Landespolizei für die Schienen- und Strassenübergänge verantwortlich. Die "grüne Grenze" hingegen wird auch im Freistaat vom BGS kontrolliert. Zuständig für die gesamte bayrisch-tschechische Grenze ist das Bundesgrenzschutzamt Schwandorf, dem neben der BGSI Furth im Wald sechs weitere Inspektionen mit insgesamt 1200 Beamten unterstehen.

Ein Blick aus dem Hubschrauber lässt erahnen, wie schwierig die Sicherung der "grünen Grenze" hier ist. Das Gelände scheint für Schleuser wie gemacht. Dichte Wälder, angrenzend Felder, Wiesen und einzelne Höfe. Für Aussenstehende ist der Grenzverlauf im dichten Gehölz auch aus der Luft kaum nachvollziehbar. Die Piloten allerdings scheinen jeden Baum zu kennen. Wenn es eng wird, müssen sie die Kollegen am Boden zu verdächtigen Stellen lotsen. Tag und Nacht sind Streifen am Boden unterwegs. Viele Übertritte finden im Dunkeln statt. Eine wichtige Hilfe bei der Überwachung sind deshalb die vom BGS seit 1993 eingesetzten Wärmebildgeräte. Mit diesen Infrarot-Empfängern können durch die Wahrnehmung von Temperaturunterschieden Menschen auch bei völliger Dunkelheit auf grosse Distanz erkannt werden. Derzeit gehen rund 20 Prozent aller Festnahmen auf die im Verbund mit Zivilstreifen, Helikoptern und Diensthunden eingesetzten Wärmebildgeräte zurück.

Wenig ergiebige Vernehmungen
Die aufgegriffenen Afghanen sind völlig ausgehungert und werden zuerst einmal verpflegt. Nach eigenen Angaben haben sie seit Tagen nichts gegessen. Die in Wolldecken gehüllten Gestalten wirken verstört. Die wenigen Habseligkeiten, die sie bei sich hatten, wurden ihnen bereits abgenommen und untersucht. In Plastictüten verpackt, liegen sie ordentlich nebeneinander: etwas Schmuck, ein Taschenmesser, Zigaretten. Die schmutzigen Kleider und Schuhe sind Zeugnisse einer wohl langen und beschwerlichen Reise. Der Leiter der Inspektion in Furth im Wald, Harald Parnow, erklärt, das Schlepperwesen sei ein höchst kriminelles Geschäft, bei dem es einzig ums Geld gehe. Dabei werde immer wieder auch der Tod der Geschleusten in Kauf genommen.

So würden Gruppen aus Asien oft in Lastwagen gepfercht, in denen sie beinahe erstickten. Nicht selten würden sie in Deutschland dann auf einer Autobahn einfach auf die Strasse geworfen. Für Leute, die nicht mit europäischen Verhältnissen vertraut seien, könne dies lebensgefährlich sein. Man finde auch öfters halb erfrorene ältere Leute, Kinder oder schwangere Frauen, die für die Fussmärsche über die Grenze zu schwach seien und einfach liegen gelassen würden.

Bei einigen der Festgenommenen wurden Notizzettel mit Telefonnummern gefunden. Damit können die Beamten vielleicht etwas anfangen. Parnow betont jedoch, die Schlepper achteten streng darauf, dass die Geschleusten nichts auf sich trügen, das ihnen gefährlich werden könnte. Zudem bleuten sie den Leuten ein, nichts preiszugeben, und versprächen ihnen oft weitere Hilfe im Fall des Scheiterns der Aktion. Deshalb brächten die Vernehmungen wenig. Die Aufgegriffenen erzählten meist irgendwelche Märchen und beteuerten sogar, nicht zu wissen, dass sie in Deutschland seien. Wie im Schleppergeschäft üblich wurden auch den zehn Männern und einer Frau aus Afghanistan alle persönlichen Dokumente abgenommen. Entsprechend kann ihre Identität nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Fotos und Fingerabdrücke ermöglichen zumindest, Personen, die ein zweites Mal aufgegriffen werden, zu identifizieren.

Monatelange Odyssee
Da Tschechien nicht die finanziellen Möglichkeiten hat, alle Aufgegriffenen in ihr Heimatland zurückzuschaffen, und viele illegale Immigranten nach einem Aufenthalt in einem Auffanglager wieder freigelassen werden, versucht ein grosser Teil von ihnen nach kurzer Zeit wieder nach Deutschland einzureisen. 1999 hatten rund 20 Prozent aller in Bayern aufgegriffenen Personen bereits wiederholt unerlaubt die Grenze überschritten. Der Chef des Bundesgrenzschutzamtes Schwandorf, Karl Magnus Malmberg, ist jedoch optimistisch, dass sich die Zusammenarbeit mit Prag verbessern wird. Schliesslich wolle Tschechien Mitglied der EU werden und sei sich bewusst, dass es dazu sowohl im juristischen als auch im polizeilichen Bereich noch bedeutender Schritte bedürfe, erläutert er im Gespräch. In erster Linie erhofft man sich in Bayern von der geplanten Einführung einer Visumspflicht für verschiedene osteuropäische Staaten eine Verbesserung der Situation. Darüber hinaus müsste aber auch das Ausländerrecht dringend europäischen Standards angepasst werden.

In Furth im Wald ist man derweil damit beschäftigt, einen Dolmetscher aufzutreiben, denn nur zwei der elf Afghanen sprechen etwas Englisch. Als der Übersetzer gegen Mittag schliesslich eintrifft, beginnen die Vernehmungen. Ein 16-jähriger Jugendlicher gibt zu Protokoll, dass er insgesamt zwei Jahre unterwegs gewesen sei. Er beteuert, er wisse nicht, wo sie sich in dieser Zeit aufgehalten hätten. Der vernehmende Beamte lächelt mild. Die Aussage bringt dem BGS wenig, denn in erster Linie geht es darum, den Weg der Schlepper nachzuvollziehen und so den international agierenden Banden auf die Spur zu kommen.

Der Bursche will einen Antrag auf Asyl stellen. Er sei nach Europa gekommen, weil er in Afghanistan keine Zukunft habe. Sein Vater habe für die Reise 13 000 Dollar bezahlt. Der Beamte erklärt ihm, sein Antrag werde keinen Erfolg haben, da er nachweislich über die tschechische Grenze gekommen sei. Ein älterer Mann - angeblich ein Arzt aus Kabul - sagt bei der Vernehmung aus, er habe 20 000 Dollar für die Reise bezahlt. Er sei von Afghanistan aus über Pakistan und Dubai auf dem Landweg nach Europa gekommen. Wie er schliesslich aber die deutsche Grenze erreicht hätte, wisse er nicht. Auch über die
Schlepper kann oder will er keine Auskunft geben. Die Männer, die sie auf verschiedenen Teilstücken begleitet hätten, seien maskiert gewesen.

Die Aufgegriffenen aus Afghanistan, Sri Lanka, Vietnam oder China gehörten meist zur Oberschicht in ihren Heimatländern. Für die Reise in den Westen haben viele ihren ganzen Besitz verkauft. In den Herkunftsländern floriert laut dem Sprecher des Grenzschutzamtes Schwandorf, Hans Rachwalik, eine regelrechte Migrationsindustrie. Das Bedürfnis zur Abwanderung werde oft erst durch Schlepperorganisationen geweckt, die den Leuten ein Leben im Paradies versprächen. Nicht alle Ausreisewilligen sind allerdings unschuldige Opfer. Vor allem unter den Osteuropäern befinden sich oftmals auch gefährliche Kriminelle. Von den in Bayern am häufigsten aufgegriffenen Rumänen kommen beispielsweise rund die Hälfte nur über die Grenze, um Autos zu stehlen und Geschäfte zu überfallen, wobei sie oft äusserst brutal vorgehen.

Die wichtigste Aufgabe des BGS besteht darin, die im Ausland sitzenden Hintermänner der Schlepperorganisationen zu finden. Dazu gibt es in Schwandorf eine eigene Abteilung für Verbrechensbekämpfung mit rund 80 Beschäftigten. Reinhold Balk, der Leiter der Abteilung, erläutert, man beschäftige sich in erster Linie mit überregionalen Fällen bandenmässiger Schleusung. Um diese effektiver zu bekämpfen, wurde Mitte 1998 zudem eine Gemeinsame Ermittlungsgruppe gegründet, in der Beamte des Polizeipräsidiums Niederbayern/Oberpfalz und des BGS zusammen arbeiten. Im Rahmen dieser Gruppe gelangen im April 1999 die Zerschlagung eines bedeutenden tschechischen Schleuserrings, der sogenannten Pilsner Gruppe, und die Auslieferung ihres "Kopfes" nach Deutschland.

Streng hierarchisch organisierte Banden
Zurzeit kostet laut Balk eine Schleusung aus Kosovo ungefähr 3000 Mark, aus der Türkei mindestens 5000, aus Asien über 10 000 und aus China sogar rund 20 000 Mark. Bei dem Geschäft gehe es um unheimlich viel Geld, was seine Bekämpfung enorm erschwere. Die Arbeit der Ermittlungsgruppe sei ein immenses Puzzlespiel, das nur sinnvoll sei, wenn man an die wirklichen Drahtzieher herankomme. Das Schleppergeschäft ist heute im Bereich der organisierten Kriminalität anzusiedeln. Amateure sind fast vollständig verschwunden. Schleuserwesen, Rauschgift- und Waffenhandel sowie Prostitution, Autoschieberei und die Verbreitung von Falschgeld hängen dabei oft zusammen. Die mafiosen Schlepperbanden sind nach Erkenntnissen des BGS streng hierarchisch organisiert. Zuoberst sitzen demnach oft Kosovo-Albaner.
Auch wenn die Zahl der Geschleusten aus dieser Gegend abgenommen hat, sind albanische Chefs heute immer noch dominierend im Geschäft. Aber auch Vietnamesen und Kriminelle aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion betätigen sich in der Branche. Auf der untersten Ebene - als Fahrer oder Fussschleuser - sind vor allem Tschechen tätig.

Erschwerend bei den Ermittlungen sei die Tatsache, dass die "kleinen Fische", selbst wenn sie wollten, kaum Angaben über ihre Vorgesetzten machen könnten, erklärt Balk. Meist kenne ein Glied der Kette nur das nächste. Dadurch werde es ausgesprochen schwierig, bis zu den Drahtziehern vorzudringen. Ausserdem könne, selbst wenn Namen bekannt seien, nichts unternommen werden, wenn sich die betreffenden Personen im Ausland aufhielten. Aus Tschechien würden zwar vermehrt Leute ausgeliefert. Auf Organisationsstrukturen, die bis nach Moskau, Kiew oder Kabul liefen, könne aber nicht zugegriffen werden. Nur wenn sich die Gesuchten nach Deutschland begäben, habe man die Möglichkeit zuzuschlagen. Balk ist deshalb überzeugt, dass längerfristig das Schlepperwesen nur in internationaler Zusammenarbeit bekämpft werden kann.