Frankfurter Rundschau, 07.07.2000

Die Träume von Aussöhnung

Griechen und Türken haben noch einen langen Weg vor sich

Von Edgar Auth (Antalya)

Erst im Heimweh begreifst du, / dass du mit Griechen verbrüdert bist. / Hört er in der Fremde ein griechisch Lied, / ist der Mensch aus Istanbul plötzlich ein anderer. (Bülent Ecevit, türkischer Ministerpräsident, 1947 in London)

Geht es um die griechisch-türkische Aussöhnung, so hält es Vural Öger mit Willy Brandt: Eine Politik der kleinen Schritte könnte aus der Ägäis ein Paradies machen, schlägt der deutsch-türkische Tourismusunternehmer und Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Stiftung (DTS) vor. Dazu gelte es die Grenzen zu öffnen und den Visumzwang abzuschaffen, der es beispielsweise zu einer umständlichen Prozedur macht, wenn ein Urlauber vom türkischen Bodrum aus schnell einmal auf die griechische Insel Kos hüpfen möchte. Gemäß deutsch-französischem Vorbild könnten Schüleraustausch, Städtepartnerschaften und eine Medienkooperation nach dem Muster des Senders Arte die Bande zwischen den ehemaligen Erzfeinden verstärken. Gemeinsame Events wie die Fussball-Europameisterschaft im Jahre 2008 setzten dem ganzen die Krone auf, fantasierte Öger. Es könnte sogar mehr als Träumerei sein, was der Geschäftsmann bei einer Tagung der Konrad Adenauer Stiftung und der DTS im türkischen Badeort Antalya vortrug.

Denn spätestens seitdem sich bei den schweren Erdbeben vor einem Jahr die zerstrittenen Nachbarn so vorbehaltlos zur Hilfe eilten, darf gehofft werden. "Diplomatie der Richterskala" wird genannt, was sich unter der engagiertern Regie der Außenminister Jorgos Papandreou und Ismael Cem entwickelt. Eine "Erschütterung der Herzen" habe das Erdbeben ausgelöst, hieß es in Antalya.

Kleine Schritte auf gutnachbarlicher Ebene folgten: Unternehmer auf beiden Seiten loten Investitionsmöglichkeiten aus, nutzen das jeweilige Nachbarland als Sprungbrett für neue Märkte. Vereinbarungen über Tourismus, Umweltschutz und technische Zusammenarbeit wurden geschlossen. Griechische und türkische nichtstaatliche Organisationen kooperieren, die Bürgermeister von Ost- und Westthrazien nehmen Kontakte auf. Die Spannungen um die türkischsprachige Minderheit im griechischen West-Thrazien wurden entschärft: Athen erkannte die dort lebenden Türken, Pomaken und Roma als ethnische Minderheiten an.

In der türkischen Presse sind Schlagzeilen wie "Athen spielt mit dem Feuer" (vor den Erdbeben) durch solche wie "Die Bilder sprechen für Freundschaft" abgelöst worden, so der türkische Journalist Dogan Tilic aufgrund einer Studie. Sein Athener Kollege Nicolas Voulelis registrierte ebenfalls das "Erdbeben als zeitlichen Strich". Aber von den großen Streitpunkten wurde keiner gelöst.

Das machten vor mehr als 70 Wissenschaftlern in Antalya die Auftritte zweier Alt-Diplomaten deutlich, die seit Jahrzehnten aneinander vorbei verhandelt hatten. Ursache ist nach Meinung des griechischen Ex-Botschafters Byron Theodoropoulos das Problem der geteilten Insel Zypern. Die Türkei habe den lokalen Konflikt erweitert "auf das gesamte griechisch-türkische Verhältnis". Immer neue Ansprüche gegen Athen habe Ankara erhoben, "auf den Festlandssockel, auf den Luftraum, auf den Seeraum, ja sogar auf Inseln in der Ägäis, bis es zur Casus Belli-Drohung kam", klagte der gewiefte Alt-Diplomat.

Da konnte sich Sükrü Elekdag nicht zurückhalten. Der türkische Ex-Botschafter, das Gegenüber von Theodoropoulos in lange erfolglosen Verhandlungen, wies die Zypern-These zurück. Vielmehr habe Griechenland angefangen, in der Ägäis nach Öl zu bohren, die Türkei habe dasselbe getan und der Erfolg seien politische Konflikte gewesen, die mehrfach bis an den Rand des Krieges gingen.

Beim Ägäis-Problem genüge ein Blick auf die Landkarte, meinte Elekdag. Dehnte Athen, wie es ihm aufgrund der internationalen Seerechtskonvention zusteht, seine Hoheitszone auf zwölf Seemeilen aus, beanspruchte es 73 Prozent des Raums. Die Türkei "würde auf eigenem Territorium gefangengenommen", beschrieb Elekdag Ankaras "Kriegsgrund". Der Konflikt gehöre nicht vor Gerichte, sondern müsse im "freundschaftlichen Dialog" ausgehandelt werden.

Damit hatte Elekdag einen weiteren Stein in der Mauer benannt. Denn Griechenland möchte den Streit vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag bringen. Die Türkei lehnt das ab. Der Gerichtshof würde ja "nur juristische Kriterien anwenden", meinte Elekdag. Wichtiger aber sei es, die im Lausanner Vertrag 1923 gefundene strategische Balance anzuwenden, die allein den beiderseitigen Interessen Rechnung trage. Er fühle sich "wie aus einem schönen Traum erwacht", stöhnte der in Deutschland arbeitende türkische Journalist Baha Güngör, nachdem die beiden Realpolitiker die Geigen des seismischen Flirts vom Himmel geholt hatten. Sein griechischer Kollege Costas Betinakis suchte Zuflucht bei Europa: Wen werde es noch interessieren, ob zwölf oder zehn Seemeilen Hoheitszone die griechischen Inseln umgeben, wenn die EU an Iran grenzte? Griechenlands Premierminister Costas Simitis hat sich schließlich beim EU-Gipfel in Helsinki erfolgreich für den Kandidatenstatus Ankaras stark gemacht.

Aber die türkische Seite, so Professor Yahya Tezel (Ankara), habe "keine Klarheit im Kopf", wisse mit Markt und Kapitalismus eigentlich nichts anzufangen. Sie werde nur von der Angst bewegt, "außerhalb des Europa-Projekts zu bleiben".

Viel wird also davon abhängen, ob Ankara die EU-Bedingungen der demokratischen, menschenrechtlichen und wirtschaftlichen Anpassung erfüllt und ob die EU ihr Angebot überhaupt ernst gemeint hat. Viel hängt aber auch davon ab, ob die versöhnliche Stimmung, die Geschäftsleute wie Öger beflügelt, von Dauer sein wird.

Der Journalist Voulelis appellierte an die eigene Zunft, der bis zum Erdbeben beiderseits vorherrschenden "Optik des Nationalismus und der Verschwörungstheorien" zu widerstehen. Diese wurzeln in einer langen Geschichte gegenseitiger Vorherrschaft und Vertreibung, die nach dem griechisch-türkischen Krieg Anfang der zwanziger Jahre im großen "Tausch" der jeweils im Nachbarland lebenden Minderheiten gipfelte und sich mit der Zypern-Krise nochmals zuspitzte.

1914 siedelten 1,7 Millionen griechisch-orthodoxe Gläubige in der Türkei. Heute leben noch 3 000 Griechen in Istanbul, so Tezel. Nun müsse man wieder das Gemeinsame statt des Trennenden betonen, lautete der Tenor in Antalya. Schulbuchkommissionen und Schüleraustausch sollen helfen.

Tezels Resümee: "Haben wir denn gegenseitig mehr von uns getötet als Deutsche und Franzosen? Warum also sollten wir vergangene Leiden nicht wie Deutsche und Franzosen überwinden?".Bleibt zu hoffen, dass Griechen und Türken keiner weiteren Erdbeben bedürfen, um einander näher zu kommen.