Neue Zürcher Zeitung, 06.07.2000

Debatte über eine neue Verfassung in der Türkei

Das geltende Grundgesetz im Geist der ottomanischen Zeit

In der Türkei schlägt die Debatte über die Notwendigkeit einer neuen Verfassung hohe Wellen. An einer hauptsächlich von Juristen besuchten Tagung in Ankara waren sich die Anwesenden, allen voran der türkische Präsident Sezer, einig, dass der Anschluss der Türkei an die EU nur mit einer neuen Verfassung möglich ist. Die Armee sieht das aber nicht so.

it. Ankara, Anfang Juli

Der türkische Präsident Sezer hat kurz vor der Sommerpause des Parlaments die Abgeordneten in Ankara beschworen, die nötigen Verfassungsreformen vorzunehmen, um der Türkei den Anschluss an die EU zu ermöglichen. Der Präsident und ehemalige Richter sprach an einer von der Friedrich-Naumann-Stiftung in Ankara mitorganisierten Tagung zum Thema der türkischen Verfassungsreform vor einem Publikum, das sich hauptsächlich aus Verfassungsexperten und Juristen zusammensetzte. In der geltenden Verfassung seien die Prinzipien der Demokratie, vor allem die Grundrechte und Freiheiten des Individuums, eingeschränkt, und die Unabhängigkeit der Justiz sei nicht gewährleistet, sagte Sezer. Aus diesem Grund habe sich die Türkei mehr und mehr von einem Rechtsstaat entfernt. Der Präsident forderte tiefgreifende Reformen, damit auch in der Türkei der Staat dem Bürger diene und nicht umgekehrt. Sein eindringlicher Aufruf, in einer neuen Verfassung die Unabhängigkeit der Justiz zu garantieren, liess deutlich werden, wie gross der Unterschied zwischen dem Juristen Sezer und seinen Vorgängern ist. Sie hatten bisher grobe Menschenrechtsverletzungen und juristische Entgleisungen immer damit begründet, dass die Justiz in der Türkei unabhängig sei. Dieser Mythos wurde nun vom neuen Präsidenten zerstört.

Die Legende von der Gewaltenteilung

Der Vorsitzende des Kassationsgerichts, Sami Selcuk, umschrieb die in der türkischen Verfassung festgelegte Gewaltenteilung mit einer Fabel. Der Löwe, der Schakal und der Wolf haben sich darauf geeinigt, die Jagdbeute unter sich zu teilen. Das erste Wild, ein Reh, zerriss der Löwe in vier Stücke und behielt einen Teil für sich, da der Vorschlag zur gemeinsamen Teilung von ihm ist. Auch den zweiten Teil riss der Löwe an sich, weil er in der Dreierallianz als stärkstes Mitglied seinen Anspruch darauf durchsetzte. Den dritten Teil nahm er sich auch, weil er sich als der Beschützer aller Tiere des Waldes sieht. Und den vierten Teil hat der Löwe gar ohne Begründung verschlungen. Genauso stehe es nach der heutigen Verfassung um das Verhältnis zwischen der Exekutive und der Justiz, meinte Selcuk, der mit feurigen Plädoyers für mehr Demokratie und für die Achtung der Menschenrechte oft Aufsehen erregt hatte. Diesmal rief er seine Zuhörer dazu auf, eine brandneue Verfassung zu erarbeiten. Die alte zu reformieren, sei ein Zeitverlust.

Die Änderung weiter Teile der geltenden Verfassung gilt als eine der Voraussetzungen für eine Annäherung der Türkei an die EU. Beanstandet werden Einschränkungen der Meinungsfreiheit, die Todesstrafe sowie das Verbot von Sprachen ethnischer Minderheiten. Sechs Monate nachdem die Türkei in Helsinki zur EU-Beitrittskandidatin ernannt worden ist, hat die politische Führung in Ankara sich immer noch nicht getraut, die nötigen Reformen anzupacken. Nun drängt die Reformbewegung darauf, endlich zu handeln, um den Zug nach Europa nicht zu verpassen. Die türkischen Reformisten werden von Exponenten in der Industrie und im Justizwesen angeführt.

In der Meinung der Experten ist jede Verfassung das Spiegelbild einer Gesellschaft und gleichzeitig ein Ausdruck ihrer Hoffnungen und Erwartungen. Beim Betrachten der bisherigen fünf Verfassungen der Türkei wird deutlich, so resümierte der Jurist Mumcu, welche grossen sozialen Umwälzungen nötig waren, um eine Anpassung an europäische Vorbilder zu erreichen. Die erste Verfassung wurde im Jahr 1876 eingeführt, als die sogenannte Tanzimat-Bewegung die ersten, zögernden Schritte in Richtung Europa wagte. Bis dahin beruhte das Rechtsverständnis der Osmanen auf dem Koran, wobei dem Sultan als Vertreter Gottes auf Erden von seinen Untertanen gehuldigt werden musste. Für den Sultan waren die Untertanen eine Herde, die weder auf Besitz noch auf irgendwelche individuellen Rechte Anspruch hatten.

Die Verfassung von 1876 räumte erstmals wenigen Amtsträgern der Hohen Pforte das Recht auf Besitz ein und tauschte den «heiligen Sultan» durch den Begriff des «heiligen Staats» aus. Von nun an musste nicht mehr der Sultan, sondern der Staat vor den Untertanen, der Herde, beschützt werden. Die Bewegung des Staatsgründers Atatürk befreite sich vom Konzept der Herde und führte in den Verfassungen von 1920 und 1924 den Begriff des Bürgers ein.

Grollen eines Generals

Ein wirklicher Durchbruch wurde aber erst mit der Verfassung von 1961 erreicht - laut Mumcu das liberalste Grundgesetz der Türkei. Der Jurist bezeichnete es als ein Paradox der Geschichte, dass ausgerechnet diese Verfassung nach einer Militärintervention eingeführt wurde. Die Generäle des Putsches von 1980 hielten die liberale Verfassung von 1961 für ungeeignet für das türkische Volk und erarbeiteten 1982 ein Grundgesetz. Dieses war, wie in totalitären Systemen üblich, hauptsächlich darum bemüht, den Staat vor Angriffen seiner Bürger zu schützen; ein unglücklicher Rückfall in den Geist der ottomanischen Zeit, meinte Mumcu. Diese heute noch geltende Verfassung wurde vom Parlament 1995 teilweise reformiert. Die Rechtsexperten waren sich aber darin einig, dass die Verfassung auch nach diesen Reformen noch weit davon entfernt ist, Basis eines demokratischen Systems zu bilden. Wichtige Akteure der Staatsführung - beispielsweise die Generäle - unterliegen nach wie vor keiner juristischen Kontrolle.

Zur selben Zeit, als die Juristen über Reformen debattierten, warnte ein hoher General vor bösen Absichten der Nachbarländer und der Europäer und rief seine Landsleute zu Vorsicht auf. Die Türkei befinde sich in einer kritischen Lage, sagte der Chef der Landstreitkräfte, General Atilla Ates. Bei der Bekämpfung des Separatismus und des islamischen Militarismus dürfe es keine Kompromisse geben. Die Warnungen richteten sich vorerst gegen Iran, das angeblich seine islamische Revolution in die Türkei exportieren wollte. Seine Kritik galt auch Vertretern der EU, die in der Türkei ethnischen Separatismus fördern und einen Streit zwischen den sunnitischen Muslimen und den Alevi auslösen wollten.