taz 4.7.2000

Debatte um Enwanderung ist eine Chance- aber kein Allheilmittel

Von der Hybris zum Selbstzweifel

Deutschland hat sich von einem quälenden Selbstbild befreit. Bis vor wenigen Monaten glaubte die Mehrheit der Bürger, sie seien innovativ, fortschrittlich, diszipliniert, unbestechlich, effektiv und deshalb auch erfolgreich. Doch dann kam die Spendenaffäre, anschließend die Green-Card-Initiative Gerhard Schröders und mit beidem die Erkenntnis: Mitunter sehen wir ganz schön alt, korrupt und unbeweglich aus. Mit der Fußball-EM dämmerte dann auch den Konservativsten: Deutschland ist satt. Fast überall in Europa spielt man geistreicher, spritziger und intelligenter.

Wo Mittelmäßiges allzu offensichtlich zu Tage tritt, macht es nur noch wenig Sinn, die Einzigartigkeit der Nation zu beschwören. Nicht die ganze Welt drängt nach Deutschland, auch woanders gibt es Fortschritt. Dies hat nun auch die CSU kapiert und sucht wie die CDU nach einem neuen einwanderungspolitischen Kurs. Bayerns Innenminister Günther Beckstein fordert eine "Blue Card"und meint: Deutschland braucht aus wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Gründen Einwanderung.

Sicherlich, es wird in den kommenden Monaten noch viel Streit darüber geben, wie die Einwanderung in Zukunft zu gestalten und in welchem Verhältnis zum Asylrecht sie zu betrachten ist. Aber angesichts der unversöhnlichen Lagerkämpfe der Vergangenheit ist die augenblickliche Situation eine mittlere Sensation. Wann hat es in Deutschland je eine Chance für eine sachliche und unaufgeregte Diskussion über Einwanderung gegeben?

Von der Hybris zum Selbstzweifel ist es nur ein kleiner Schritt. Und es scheint, dass viele Deutsche in den ehemals ungeliebten Ausländern bereits so etwas wie Erlöser sehen. Auch wenn Deutschland aus wirtschaftlichen, demographischen und arbeitsmarktpolitischen Gründen Einwanderung braucht, so gilt gleichzeitig: Zuwanderung ist keine Antwort auf die Überalterung der Gesellschaft und das Rentenproblem. Auch garantiert sie nicht wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit und Innovationskraft. All diese Probleme lassen sich nur durch eine entsprechende Familienpolitik, eine intensive Bildungs- und eine Neuordnung der Rentenpolitik lösen. Einwanderung kann diese Politik allenfalls ein wenig unterstützen. EBERHARD SEIDEL