taz 4.7.2000

Getrieben von der Union

Die öffentliche Debatte um die Einwanderung wird zum Leidwesen der Grünen derzeit von der Union bestimmt. Dabei galt die Partei als Vorreiter

von SEVERIN WEILAND

"Es war ein strategischer Fehler, dass wir über unser Thema nicht prominent debattiert haben", sagt Claudia Roth im Rückblick. Kaum hatten die Grünen nämlich nach ihrem Parteitag Münster verlassen, konnten sie in den Blättern der Republik nachlesen, dass die Union und SPD-Bundesinnenminister Otto Schily das Thema Einwanderung nach vorn drängten.

Die Delegierten des grünen Parteitages waren wohl müde gewesen. Sie wollten nach Hause, sich erholen von zwei anstrengenden Tagen, an denen sie dem Atomkonsens zugestimmt und ihre neue Parteispitze gewählt hatten. Im Eilverfahren stimmte man den letzten Anträgen zu - ein wenig pflichtgemäß und mit einstimmigen Ergebnissen. Darin wurde das Recht auf Asyl noch einmal bekräftigt und ein Einwanderungsgesetz verlangt.

Roth, Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Menschenrechte, ist sich der Gefahr bewusst, dass die Grünen eines ihrer wichtigsten Themen an die Konkurrenz verlieren. Zumal nicht nur die Union, sondern auch Bundesinnenminister Schily verkündet, im Falle eines Einwanderungsgesetzes müsse das Aslyrecht verändert werden. Die Stille in ihrer Partei ist Roth ein wenig unheimlich: "Ich habe meine Zweifel, ob das gut geht, wenn wir auf Parteitagen deutlich machen: Beim Thema Asyl ist bei uns eh alles klar." Roth beklagt, dass ein Diskurs um den Stellenwert des Asylrechts in ihrer Partei und der Fraktion in jüngster Zeit gar nicht mehr stattfindet. Der Ort, wo dies geschehen müsste, ist eine Baustelle. Renate Künast und Fritz Kuhn, neu gewählte Sprecher der Bundespartei, sind gerade einmal eineinhalb Wochen im Amt und dabei, ihre Arbeitsstrukturen herzustellen. Da bleibt wenig Zeit für strategische Konzepte.

Wer in diesen Tagen grüne Abgeordnete anspricht, spürt, wie ungelegen ihnen das von der Union aufgezwungene Thema kommt. Nichts rührt so sehr an die Seele der Partei wie eine Debatte, ob das Asylrecht für ein Einwanderungsgesetz notfalls weiter eingeschränkt werden müsste. Cem Özdemir, innenpolitischer Sprecher der Fraktion, hält eine Verknüpfung von Asyl und Einwanderung schlichtweg für kein Thema: "Mit Ausnahme von Otto Schily will darüber niemand in der Koalition sprechen". Bestätigt fühlt sich Özdemir durch das Machtwort des Kanzlers, der vergangene Woche überraschend in die Debatte eingriff und sich hinter die Grünen stellte. Das Asylrecht, sagte Schröder, werde nicht angetastet.

Verwiesen wird in der Fraktion auf die Beschlusslage der Partei. Und die ist in der Tat eindeutig. Das individuell geltende Asylrecht soll erhalten bleiben, die Umformung in ein institutionelles Aslyrecht - wie die Union es fordert - wird strikt abgelehnt. Das hat der Parteitag in Münster noch einmal bekräftigt. "Asylrecht", sagt Roth, sei eben "kein staatlich verordnetes Gnadenrecht".

Bei den Vorstellungen zu einem Einwanderungsrecht heben sich die Grünen seit langem von anderen Parteien ab. Doch ist davon wenig zu hören. Wer erinnert sich noch daran, dass es 1996 die Grünen waren, die als erste Fraktion des Bundestages ein eigenes Einwanderungsgesetz vorlegten? Damals wurde eine Quote von 220.000 Einwanderern zusätzlich zu der gleich hohen damaligen Quote von Aussiedlern gefordert. Asylbewerber, Flüchtlinge und Familienangehörige sollten in diese Quote nicht mit eingerechnet werden.

Der Entwurf des Gesetzes liegt in den Schubladen. Ihn erneut zur Abstimmung zu stellen verbietet sich schon allein aus Gründen der Koalitionsräson. Mit dem Wiedererstarken der FDP bekommen andere, längst vergessene Papiere politischen Sprengstoff. So wurde jüngst in den Medien ein Gesetzesantrag von Rheinland-Pfalz für den Bundesrat aus dem Jahre 1997 erwähnt. Zufall? Wohl kaum, wie in der Fraktion gemunkelt wird. Schließlich sieht der Antrag eine Einwanderungsquote vor, von der Asylbewerber und Flüchtlinge abgezogen werden. Das Signal aus Mainz, offenbar von der FDP ausgesandt, die dort mit der SPD regiert, war eindeutig: Auch in Sachen Einwanderung gibt es eine Alternative zu Rot-Grün.

Die Hoffnung, dem Thema zu entkommen, ruht bei den Grünen derzeit in allererster Linie auf der Einwanderungskommission, die Schily noch diese Woche vorstellen will. Dort könnten dann die Grundzüge ihres Gesetzes erneut behandelt werden - über den Umweg der Fachleute. Noch ist selbst in den Reihen der Faktion allerdings unklar, welchen Auftrag die Kommission haben wird - ob sie gar, wie manche befürchten, am Ende doch das Asylrecht erneut unter die Lupe nimmt.

Die Grünen haben es schwer, mit ihren Argumenten an die Öffentlichkeit zu dringen. Roth kann davon ein Lied singen: "Wenn ich darauf verweise, dass wir die Fluchtursachen bekämpfen müssten, anstatt Quoten für Flüchtlinge zu fordern und das Asylrecht weiter einzuschränken, sagt man doch nur: Da kommt die mit so was Altmodischem." Ein anderer hingegen dringt, wie vergangene Woche geschehen, mit genau derselben Argumentation in die Öffentlichkeit. Nur: Er heißt Heiner Geißler und ist Christdemokrat.