junge Welt, 01.07.2000

»Wir wünschen uns einen gesellschaftlichen Kompromiß«

junge-Welt-Gespräch mit dem Europasprecher der PKK, Riza Erdogan

F: Der Prozeß gegen den PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali liegt ein Jahr zurück. Damals wurde besonders in der kurdischen Öffentlichkeit der Eindruck erweckt, es gäbe geheime Absprachen zwischen Öcalan und dem Generalstab der türkischen Armee - vor allem weil Öcalan in seiner Verteidigungsrede zum Erstaunen vieler das Ende des bewaffneten Kampf versprochen hatte. Gibt es ein solches Abkommen?

Es gibt kein Abkommen. Auch Öcalan selbst hat nie behauptet, daß es ein solches Abkommen gibt. Es findet eine Diskussion in den entsprechenden türkischen Kreisen statt, die bereits während der Vorbereitung des Prozesses begann, aber diese Diskussion dreht sich in erster Linie darum, wie man die kurdische Bewegung aufreiben und atomisieren kann.

F: Es wurde aber gerade in den kurdischen Medien zumindest versucht, den Eindruck zu erwecken.

Wenn es irgendeine Abmachung gäbe, dann würde man in der Praxis irgendwelche Schritte, ein positives Ergebnis sehen. Aber es ist nichts erfolgt. Es zeigt sich offen, daß weder die türkischen Politiker noch die türkische Armee derzeit zu einer Lösung der kurdischen Frage bereit sind. Die jüngste Erklärung des Sekretariats des Generalstabs zeigt, daß diese Kreise nicht einmal bereits sind, die kurdische Sprache zuzulassen und also eine sehr reaktionäre Haltung einnehmen.

F: Dennoch ist in den Erklärungen der PKK ständig von einer »demokratischen Republik« und einer »neuen Phase« die Rede. Handelt es sich dabei nicht um einseitige und sehr weitgehende Zugeständnisse der kurdischen Seite?

Wir sehen diese Politik nicht als einseitige Zugeständnisse an. Es handelt sich vielmehr um eine Änderung unserer Strategie. Das kurdische Volk setzt seinen Kampf zur Erreichung seiner Rechte und Freiheiten fort. Was wir unter »demokratischer Republik« verstehen, ist eigentlich eine Vorstufe zu einer gleichberechtigten und sozialistischen Gesellschaftsordnung. Wir kämpfen für den Ausbau der Demokratie in der Türkei und Befreiung Kurdistans. Dabei betrachten wir die Befreiung Kurdistans jedoch nicht als (macht)politischen, sondern als geographischen Begriff in dem Sinne, daß die Kurden in ihrem Gebiet frei leben, sich selbst regieren - zum Beispiel über die regionalen Verwaltungen -, sich frei organisieren, ihre Meinung ausdrücken und sich politisch betätigen können. Von daher ist die »demokratische Republik« kein Zurückweichen, sondern unser politisches Programm.

Wer den Kampf für eine Demokratisierung der Türkei für leicht hält, irrt sich. Wir wären froh, wenn es zu einer Verständigung mit der türkischen Armee oder den türkischen Politkern käme, natürlich wünschen wir uns einen gesellschaftlichen Kompromiß, dies würde der Befreiung sowohl der Türken als auch der Kurden dienen. Aber die andere Seite geht bisher nicht darauf ein.

F: Im Aufruf zur zentralen europäischen Kurden- Demonstration am vergangenen Wochenende in Düsseldorf kam weder das Wort Kurdistan noch überhaupt der Begriff kurdisch vor. Ist die kurdische Frage obsolet?

Wir sind natürlich immer noch eine kurdische Bewegung, aber wir führen den Kampf jetzt auch um die Demokratisierung der Türkei.

F: Seit vergangenem August bzw. September hat die PKK ihre Guerilla weitgehend aus dem Staatsgebiet der Türkei zurückgezogen. Wie viele Guerilla-Kämpfer wurden während dieses Rückzugs seitens der türkischen Armee getötet?

Laut früheren Veröffentlichungen unserer Partei sind im Verlauf des Rückzugs etwa 150 unserer Freunde gefallen. Seitdem haben keine besonders wichtigen Operationen mehr stattgefunden. Im Haftaningebiet sind zudem kürzlich acht unserer Freunde gefallen.

F: Wieso werden diese Zahlen nicht veröffentlicht beziehungsweise heruntergespielt. In den neuesten Ausgaben z. B. der kurdischen Zeitung »Serxwebun« werden zwar die Namen der Gefallenen aufgelistet, alles in allem wird dem aber weniger Platz eingeräumt als früher. Auch in der »Özgür Politika« ist über die Angriffe verhältnismäßig wenig zu lesen.

Es gibt derzeit keine neuen Gefallenen, deshalb wird darüber nicht berichtet. Wir bekennen uns zu unseren Märtyrern und zu unserer Vergangenheit. Aber der wichtigste Dienst, den wir unseren Gefallenen erweisen, besteht nicht darin, die Widersprüche und Auseinandersetzungen um die kurdische Frage zu vertiefen und zu verlängern, sondern darin, daß wir die kurdische Frage einer Lösung zuführen und die klassische Logik von Auseinandersetzung und Kampf überwinden.

F: Es ist ein interessanter Widerspruch zu beobachten: Früher taten viele Kurden, sowohl in der PKK als auch in den demokratischen Organisationen, im Menschenrechtsverein, bei Zeitungen etc. alles, um Menschenrechtsverletzungen an die Öffentlichkeit zu bringen. Häufig unter Einsatz des eigenen Lebens. Heute sind selbst die der US-Regierung nahestehende Organisation »Human Rights Watch« oder europäische Politiker in ihrer Kritik der Menschenrechtsverletzungen in Kurdistan radikaler als die kurdischen Medien. Auch die Politiker der kurdischen Partei HADEP, die jüngst die Bundesrepublik besuchten, haben in ihren Gesprächen die gegen sie stattfindenden Angriffe meist heruntergespielt. Was versprechen Sie sich von dieser Taktik?

So eine Taktik verfolgen wir nicht. Was die Zeitung Özgür Politika oder die Partei HADEP angeht, so ist das eine Entscheidung ihrer Gremien, die möglicherweise der gegen sie ausgeübten Repression entspringt. Wir üben keinen Druck in diese Richtung auf sie aus. Der Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen ist Teil unserer Politik. Wir bringen Veröffentlichungen über Menschenrechrechtsverletzungen in europäische Gremien ein und unterstützen entsprechende Organisationen. Wir haben diesen Kampf nicht abgeschwächt oder eingestellt. Aber wir führen diesen Kampf aus einem anderen Blickwinkel. Es ist falsch, sich immer nur zu beschweren, man muß auch Lösungsvorschläge machen. Wenn wir solche Rechtsverletzungen anprangern, dann müssen wir gleichzeitig eine Lösung dafür vorschlagen. Diese Rechte werden uns von seiten der Türkei nicht gegeben, sondern wir können sie nur durch den demokratisch-politischen Kampf der Massen erringen. Deshalb haben wir in letzter Zeit eine Aktionskampagne begonnen, überall in Europa finden Hungerstreiks statt, und es ist eindeutig, gegen wen die gerichtet sind.

F: Aber bei diesen Hungerstreiks geht es lediglich um Abdullah Öcalan und seine Gesundheitssituation. Vom kurdischen Volk und seinen Forderungen ist doch überhaupt nicht mehr die Rede?

Das kommt darauf an, was man darunter versteht. Für uns ist Abdullah Öcalan das kurdische Volk und die Zukunft des kurdischen Volkes. Und ein Regime, das Abdullah Öcalan zerstört, wird auch dem kurdischen Volk nichts geben. Und ein Regime, das Abdullah Öcalan seine Rechte gewährt, die Isolationshaft gegen ihn aufhebt, und ihm das Recht und die Freiheit zur Rede verleiht, das wird auch Schritte einleiten, damit das kurdische Volk seine Freiheit erreicht und frei wird. Hier liegt ein Mißverständnis vor: Es wird angenommen, daß wir uns lediglich für eine Person engagieren, aber in Gestalt dieser einen Person ist ein ganzes Volk angeklagt. Falls Öcalan hingerichtet werden sollte, so wird damit ein ganzes Volk ausgerottet, das haben wir bei verschiedenen Aufständen in der Geschichte erlebt. Aber wenn ein Volk sich rechtzeitig für das Leben seines Führers einsetzt und Aktionen für ihn durchführt, dann kann es dadurch gleichzeitig seine sprachlichen, kulturellen und Mitspracherechte erweitern. Dies ist gleichzeitig eine politische Perspektive.

F: Welche Schritte hat Ihre Partei unternommen, um den abgezogenen Guerillakräften die Rückkehr in ein legales Leben in der Türkei zu ermöglichen. Haben Sie sich um die Vermittlung internationaler Organisationen, wie z. B. dem Roten Kreuz, bemüht?

Wir haben nicht vor, die Guerilla aufzulösen, deshalb unternehmen wir auch keine Schritte, um sie in ein normales Leben zu integrieren. Die Guerillakämpfer verbleiben als Verteidigungskräfte des kurdischen Volkes an ihrem Platz. Ihre Existenz hängt von der Lösung der kurdischen Frage ab. Die Guerilla kann ihre Waffen höchstens auf der Grundlage einer Teilnahme am legalen politischen Leben niederlegen. Es gibt derzeit keinerlei Schritte, die Guerilla aufzulösen, im Gegenteil, die Zahl der Guerillakämpfer als Verteidigungskräfte wird aufgestockt.

Die Guerilla steht heute an zweiter Stelle, hinter dem Kampf auf legaler politischer Ebene. Abdullah Öcalan schlägt den Kurden einen Kampf entsprechend den Auseinandersetzungssformen des 21. Jahrhunderts vor. Bisher drehte sich die kurdische Geschichte immer um einen Wechsel von Aufstand und Niederschlagung beziehungsweise Verrat. Jetzt geht es darum, den legalen demokratischen Kampf zu entwickeln. Deshalb haben wir innerhalb der Guerilla eine Phase der Ausbildung begonnen. Unsere Guerillakräfte werden politisch, sozial und kulturell für die Teilnahme am legalen politischen Kampf ausgebildet.

Der türkische Staat sieht diese neue Phase als besonders gefährlich an. Man muß Ecevits Aussagen in Diyarbakir sehr genau analysieren. Man muß die Ängste des türkische Staates erkennen. Es hat sich gezeigt, daß die Szenarien, die auf eine Auflösung oder Schwächung der PKK setzten, nicht erfolgreich sind. Die PKK hat ihre organisatorische Existenz bewahrt, und das fürchtet der türkische Staat, er weiß nicht, wie er reagieren soll. Der türkische Staat hatte darauf gesetzt, daß sich die PKK auflöst, daß die kurdische Bevölkerung unorganisiert und isoliert, vereinzelt wird, um den Kurden dann eventuell einzelne kulturelle Rechte zu gewähren. Das wird die PKK nicht zulassen.

F: Im Internet war kürzlich zu lesen, daß etwa 20 bis 30 Führungskader der PKK die Reihen der Partei verlassen und bei der PUK Unterschlupf gefunden hätten.

Das stimmt in der Sache, aber die Zahl ist zu hoch gegriffen. Das kann aber die PKK nicht schwächen. Die PKK ist eine große, starke Bewegung. Es kann Abspaltungen geben, Leute die uns verlassen. Das sehen wir als natürlich an, das kann die PKK nicht groß beeinflussen. Wir nehmen Rücksicht auf die Gefühle, die Überzeugung und die Psychologie der Menschen. Sie sind unzufrieden, also wenden sie sich von uns ab, das ist aber für uns irrelevant.

F: Eines der Hauptmotive der letzten Großdemonstration ist die Forderung nach Abschaffung der Todesstrafe. Geht es dabei nur um das Todesurteil gegen Öcalan, oder wenden Sie sich allgemein gegen die Todesstrafe?

Wir sind generell gegen die Todesstrafe. Wir waren auch in der Vergangenheit gegen die Todesstrafe.

F: Wieso wurden dann im zurückliegenden Jahr allein in Deutschland und der Schweiz drei bzw. vier Personen seitens der PKK entweder umgebracht oder aber es wurde versucht, sie umzubringen. Ich meine damit die beiden Toten in Bremen, den Mann in der Schweiz, den man in der Vermutung hat liegen lassen, er sei tot, und der nur durch Zufall gefunden wurde, sowie den Überfall auf den Journalisten Selahattin Celik in Köln, der zumindest schwer verletzt wurde. Diese Ereignisse passen doch nicht in eine »Friedensphase«.

So was kommt bei uns nicht vor. Solche Ereignisse werden uns angekreidet und zwar vor allem aus polizeilichen Kreisen. Wir haben derzeit keine derartigen Vorfälle. Bezüglich dieser Beschuldigungen gibt es auch Erklärungen in unseren Presseorganen. Wir weisen diese Beschuldigungen zurück.

Insbesondere in den vergangenen eineinhalb Jahren, in denen wir die Linie des demokratischen Kampfes entwickelt haben, haben wir uns auf solche Dinge nicht eingelassen. Uns werden Provokationen aufgezwungen, dennoch halten wir an unserer Linie fest, den demokratischen Kampf, den Dialog und eine demokratische Lösung zu entwickeln. Deshalb akzeptieren wir auch solche Anschuldigungen nicht.

F: Bezeichnen Sie es als Provokation, wenn Ihre neue Politik, und insbesondere die Politik aus Imrali kritisiert wird?

Nein, hm ..., nein, das verstehe ich nicht. Das ist nicht unsere Aussage. Man kann diese Imrali-Phase kritisieren, die Menschen können unterschiedliche Auffassungen vertreten. Auch wir haben unter uns diskutiert, sind aber zu einer Lösung und einer gemeinsamen Auffassung gekommen. Es ist niemand tätlich angegriffen worden, weil er diese Imrali-Politik kritisiert. Aber es gibt manche Kreise, deren Presseorgane anstatt den türkischen Staat zu kritisieren nur die PKK angreifen. Aber wir schreiben in unseren Presseorganen kein Wort über sie.

F: In Europa, speziell in Deutschland, gibt es mittlerweile mehr (ehemalige) Führungsmitglieder der PKK außerhalb als innerhalb der Organisation. Diese Kreise verfügen über kein Presseorgan, werden jedoch in den Veröffentlichungen der PKK häufig angegriffen und bedroht. Sind diese Leute in Ihren Augen Provokateure?

Nein, Ich habe diese Leute nicht gemeint. Ich halte diejenigen, die die PKK verlassen haben, nicht für sehr wichtig. Auch wenn gesagt wird, es seien ehemalige ZK- Mitglieder, wichtige Kader etc. Wer will, kann sich ja organisieren, kann dies gegen das kurdische Volk benutzen. Wir kennen diese Leute und ihre Möglichkeiten sehr gut. Aber diese Überfälle mit Todesfolge, die man uns anhängen will, wurden nicht von uns verübt. Unsere Partei verhält sich sehr verantwortlich. Wir betrachten es als absichtliche Provokation, wenn man uns diese Dinge anhängen will.

Das Gespräch führte Anna Chondrula