Stuttgarter Nachrichten, 30.06.00

Öcalan - der unsichtbare Gegenspieler

Ankara - Als der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit kürzlich das Kurdengebiet im Südosten des Landes besuchte, hatte er es bei seinen Reden und Kundgebungen mit einem ebenso unerwünschten wie unsichtbaren Gegenspieler zu tun: Abdullah Öcalan.

Von unserem Korrespondenten THOMAS SEIBERT, Istanbul

Immer wieder wurde der Regierungschef mit dem Einfluss konfrontiert, den der inhaftierte Anführer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in dieser Gegend immer noch hat. So etwa, als einige Zuhörer bei einer Rede Ecevits den PKK-Chef hochleben ließen - und deshalb sofort festgenommen wurden.

Zwar konnte Ecevit darauf verweisen, dass der Krieg zwischen der PKK und der türkischen Armee nach mehr als 15 Jahren vorbei ist. Doch die Frage, wie der Frieden aussehen soll, ist auch ein Jahr nach dem Todesurteil gegen Öcalan noch offen. Ecevit sprach im Kurdengebiet einige der sozialen Probleme an, die angepackt werden müssen. Da ist die Armut - der durchschnittliche Monatslohn im Südosten der Türkei liegt bei 270 Mark - und die hohe Arbeitslosigkeit, die in einigen Bezirken 50 Prozent erreicht. Und da ist die Frage, was mit den mehreren zehntausend "Dorfwächtern'' geschehen soll. Die Mitglieder der von Ankara aufgestellten und bezahlten Kurdenmilizen, die in der Vergangenheit gemeinsam mit der Armee gegen die PKK gekämpft haben, werden jetzt nicht mehr gebraucht.

Der Schwebezustand zwischen waffenstarrendem Kriegszustand und friedlichem Neubeginn herrscht auch in anderen Bereichen. So wurde der seit Jahren geltende Ausnahmezustand nach den Friedensappellen Öcalans an seine Kämpfer in einer von sechs Kurdenprovinzen aufgehoben. Jetzt soll eine weitere Provinz folgen; doch in vier anderen bleibt das Kriegsrecht in Kraft. Zudem ist geplant, die im Krieg von der Armee und der PKK zerstörten Dörfer in der Region neu aufzubauen und geflüchtete Einwohner zur Rückkehr zu bewegen.

In der Regierung sucht man inzwischen nach Auswegen aus der Sackgasse der Konfrontation. So dachte Außenminister Ismail Cem laut über kurdisches Fernsehen nach; Beamte seines Ministeriums betonten kürzlich, die Gründungsverträge der Türkei sähen keine Sprachverbote vor.

Zudem hat eine Diskussion über die Abschaffung der Todesstrafe begonnen, die vor der Festnahme Öcalans und den Friedensaufrufen des PKK-Chefs völlig undenkbar gewesen wäre. Der Nationale Sicherheitsrat setzte jetzt einen Ausschuss zum Thema ein.

Viele dieser Neuansätze hängen mit den Europa-Ambitionen Ankaras zusammen. Die weitere Demokratisierung und die Durchsetzung der Menschenrechte sind Aufgaben, denen sich der türkische Staat stellen muss, wenn das Land eines Tages EU-Mitglied werden will. "All das sind positive Entwicklungen'', sagt ein kurdischer Aktivist in Istanbul. "Und jeder Schritt wird auch dem Kurdengebiet nützen.