Die Presse (Wien), 30.06.2000

Tod durch Strang oder lebenslang - Fall Öcalan bleibt ein Dauerbrenner

Ein Jahr nach dem Todesurteil gegen PKK-Chef Öcalan spaltet die Frage der Vollstreckung die Koalition.

Von unserem Korrespondenten JAN KEETMAN

ISTANBUL. Ein Jahr ist es nun her, daß der Vorsitzende der Partei der Arbeiter Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, auf der Gefängnisinsel Imrali wegen Hochverrats zum Tode verurteilt worden ist. Nach türkischem Recht stehen zwischen Öcalan und dem Galgen nur noch die Zustimmung des Parlaments und die Unterschrift des Staatspräsidenten. Doch die Regierung Ecevit zögert die Zusendung der Akte Öcalan an das Parlament noch immer hinaus. Premier Bülent Ecevit will zumindest solange warten, bis der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte über eine Beschwerde der Anwälte Öcalans befunden hat. Wie immer die Richter in Straßburg entscheiden, verhindern können sie die Hinrichtung Öcalans nicht; sie sind nicht befugt, bestehende Urteile aufzuheben. Der Ball wird also im türkischen Feld bleiben, und da wird mit dem Fall Öcalan weiterhin kräftig Politik gemacht. Die zwei Hauptkonkurrenten sitzen in der Regierung: Premier Ecevit und sein Vize, der Chef der ultranationalistischen MHP, Devlet Bahceli. Ecevit ist seit langem für die Abschaffung der Todesstrafe. Wegen Öcalan möchte er auch nicht die Annäherung an Europa verzögern. Außerdem dürfte ihm klar sein, daß nach Öcalans Hinrichtung ein Aufflammen des Kurdenkonfliktes unvermeidbar wäre.

MHP will Referendum

Bahceli kann sich eine Abschaffung der schon seit 16 Jahren nicht mehr vollzogenen Todesstrafe in den meisten Fällen vorstellen, nicht aber für den Hochverratsparagraphen, nach dem Öcalan verurteilt wurde. Er sieht hierin eine Frage der nationalen Sicherheit. "Andernfalls", argumentiert Bahceli, "können diejenigen, die die Türkei von innen zerstören wollen, neue Öcalans hervorbringen." Notfalls will er sogar ein Referendum über die Hinrichtung des PKK-Chefs durchführen lassen. Für Bahcelis Partei ist die Hinrichtung Öcalans eine Überlebensfrage. Die ultranationalistische MHP ist im Schatten des Kampfes gegen die PKK groß geworden.

Ihren größten Wahlerfolg verdankte sie der nationalistischen Aufwallung nach der Verhaftung Öcalans. Zwei weitere Parteiführer, Tansu Ciller und Mesut Yilmaz, haben sich ebenfalls auf die Hinrichtung Öcalans festgelegt. Theoretisch hätten die drei Parteien bereits die für die Hinrichtung notwendige Mehrheit, doch ist nicht sicher, was geschieht, wenn es tatsächlich zur Abstimmung kommt. Hemmend dürfte der vom Militär dominierte Nationale Sicherheitsrat wirken; er hat sich wegen der Annäherung an Europa ebenfalls für die Abschaffung der Todesstrafe ausgesprochen. Indessen streicht die Türkei bereits die ersten Früchte von Ecevits gemäßigter Politik ein. Die PKK hat sich auf Befehl ihres gefangenen Führers fast vollständig in den Nordirak zurückgezogen, wohin ihr das türkische Militär von Zeit zu Zeit mit neuen Offensiven folgt. Den nur noch von vereinzelten Vorfällen gestörten Frieden möchte Ecevit nun für die Entwicklung des Südostens nützen. Das ist keine leichte Aufgabe, denn die Region hat enormen Aufholbedarf. Außerdem wird sie noch immer per Ausnahmerecht verwaltet. Zwar besteht der Ausnahmezustand, der früher in 13 Provinzen galt, nur noch in fünf und wird ab 1. Juli auch in Van aufgehoben.

Doch darf sich die Verwaltung des Ausnahmegebietes auch in den Nachbarprovinzen einmischen, wodurch die neue Regelung gleich wieder verwässert wird. Auch auf anderem Gebiet wird gebremst. Ein im Außenministerium erarbeiteter Vorschlag, das Verbot von nichtoffiziellen Landessprachen zu streichen, verschwand auf Drängen des Militärs rasch wieder in der Schublade. Hervorgezogen hat man dagegen einen zweiten Öcalan-Prozeß. Diesmal soll Öcalan nicht allein, sondern zusammen mit etwa 100 anderen Angeklagten für die Aktionen der PKK vor dem Militärputsch von 1980 zur Rechenschaft gezogen werden.