Frankfurter Rundschau, 29.06.2000

DAS INTERVIEW
"Die Grünen kämpfen nicht mehr"

Rüstungskritiker Jürgen Grässlin zu seinem Parteiaustritt

Nach 13 Jahren Parteizugehörigkeit hat Jürgen Grässlin (Bild: ap), Sachbuchautor und Pädagoge, den Grünen den Rücken gekehrt. Über die Gründe seines Austritts und die Entwicklung der Partei sprach mit dem 42-jährigen Freiburger Rüstungskritiker FR-Korrespondent Peter Henkel.

FR: Herr Grässlin, warum sind Sie aus den Grünen ausgetreten?

Grässlin: Mir ist das wahrlich nicht leicht gefallen. Ich habe viel Kraft investiert in dieses Projekt. Ich weiß, dass Kompromisse notwendig sind, zumal in einer Regierungskoalition. Aber diese Partei hat ja kein Rückgrat mehr.

Wie hat sich das gezeigt?

Schon beim Parteitag in Bielefeld, der im vergangenen Jahr Kampfeinsätzen der Bundeswehr zustimmte und den Kosovo-Krieg nachträglich absegnete. Jetzt in Münster ist das Fass übergelaufen.

Was hat Sie so gestört?

Da gab es vieles. Zum Beispiel das Ja zum Atomkonsens. Und Grüne verstehen Emanzipation jetzt so, dass Frauen künftig in Kampfeinheiten der Bundeswehr aktiv werden können. Entsetzt bin ich über die Umfunktionierung der Bundeswehr zur Interventionsarmee. Und die Basisdemokratie wird mehr und mehr ausgehöhlt, etwa durch die Bildung eines neuen Parteirats ohne Trennung von Amt und Mandat oder die Zentralisierung der Spitze.

Nehmen wir den Atomausstieg. Die Befürworter argumentieren, mehr sei eben nicht erreichbar für eine Sechs-Prozent-Partei.

Das ist typisch. Da wird nur noch der Konsens gesucht, anstatt auch einmal in die Offensive zu gehen. Es wird gekuscht vor der Atomwirtschaft, ganz wie bei Rüstungsindustrie oder Autoherstellern. Immerhin, beim Atomausstieg stimmt wenigstens die Grundrichtung. Trotzdem: Kommt es in den nächsten Jahrzehnten zu einem GAU, haben sich die Grünen mitschuldig gemacht.

Lassen Sie uns die Eingangsfrage umkehren: Warum sind Sie so lange bei diesen Grünen geblieben?

Mit vielen anderen habe ich das Projekt des Umbaus der Industriegesellschaft auf den Weg gebracht und viel Hoffnung darauf gesetzt. Also Konversion der Rüstungsindustrie, eine andere Energie- und Verkehrspolitik. Daran hängt mein Herz.

Jetzt wird als strategisches Ziel der Partei die Eroberung der Mitte ausgegeben.

Die Grünen sind durch und durch eine Realo-Partei. Das ist so entschieden worden, das muss man akzeptieren. Trotzdem: Ein Vogel fliegt mit zwei Flügeln, mit einem stürzt er ab.

So viel Mitte war nie unter deutschen Parteien. Sehen Sie die Wähler dort auch?

Nein. Ein Teil denkt beispielsweise nach wie vor pazifistisch und antimilitaristisch. Die Mitte ist nicht gewachsen. Was gewachsen ist, ist der Drang der Parteien zu der so genannten Mitte. Wenn die Grünen glauben, es wären auch für sie da mehr Stimmen zu holen, übersehen sie, dass sie sich so überflüssig machen. In der Mitte treten sich die Parteien auf die Füße.

Liegt das nur am Schielen auf Stimmen? Oder nicht auch an elementaren Prozessen in der Biographie der Partei?

Die Mehrheit der Mitglieder ist heute zwischen 35 und 45. Parallel zur in dieser Lebensphase üblichen Konsolidierung im privaten Bereich hat auch die Partei eine Wandlung durchgemacht.

Konsolidierung oder Anpassung?

Beides. Es werden Kanten abgeschleift, aber auch Positionen regelrecht aufgegeben. Noch ins Wahlprogramm 1998 hatte die Partei meine Initiative für eine alljährliche Senkung des Rüstungsetats um mindestens fünf Prozent hineingeschrieben. Jetzt stimmen sie einer Erhöhung zu. Oder: Ein Tempolimit 120 km/h auf der Autobahn - so eine Forderung wird heute von Joschka Fischer als Relikt aus alten Tagen abgetan. Das alles hat natürlich auch damit zu tun, dass die wirkliche Macht im Land nicht im Bundestag sitzt.

Sondern?

Bei DaimlerChrysler oder bei der Deutschen Bank. Von dort müssen wir den Primat für die Politik zurückholen, gegen das Diktat der Wirtschaft - siehe Kanzler Schröder und die Altautoverordnung. Aber dieser Kampf wird von den Grünen nicht mehr geführt.

Vielfach heißt es, die Gründungsthemen der Partei seien historisch überholt oder stellten sich völlig anders dar. Friedenspolitik wird dann als Osterweiterung der Nato buchstabiert und Umweltschutz als Marktführerschaft bei neuen Technologien.

Wenn die Grünen es nicht schaffen, diesen Prozess nicht nur aufzuhalten, sondern umzukehren, dann stirbt das grüne Projekt. Die alten Fragen sind nicht erledigt, im Gegenteil.

Zum Beispiel?

Es toben mehr Kriege als je zuvor auf der Erde, es gibt unglaublich brutale Bürgerkriege, unsere Wirtschafts- und Lebensweisen führen die Menschheit, siehe Klimakatastrophe, ökologisch an den Rand ihrer Existenz. Jeden Tag sterben in den armen Ländern 40 000 Kinder durch Krieg, Hunger, Krankheit. Da wäre es die große Aufgabe der Grünen, die richtige Mischung zu finden zwischen unserer Spaßgesellschaft und den ökologischen, friedens- und entwicklungspolitischen Notwendigkeiten.

Was hindert sie daran?

Wie gesagt, sie kuschen vor den Konzernen. Oder dem Lobbyverband ADAC. Es schwimmt sich eben leichter mit dem Strom als dagegen.