junge Welt, 27.06.2000

Schily selektiert
Einwanderungsgesetz im Interesse der Wirtschaft

Auch Bundesinnenminister Otto Schily ließen 58 Tote in einem Kühlwagen nicht kalt: »Was in Dover passiert ist, ist grauenvoll«, sagte er der Berliner Zeitung in einem Interview in der Montagsausgabe. Einen Zusammenhang zwischen den toten Flüchtlingen und der »Asylgesetzgebung« der Bundesrepublik wollte er aber nicht gelten lassen. Auch der Zusammenhang zwischen rechtsradikaler Gewalt und staatlichem Rassismus bleibt ihm verschlossen.

Neonazis - bzw. ihre Aktivitäten - mag er nicht: »Die fremdenfeindlichen Anschläge und Verhaltensweisen in unserem Land sind eine Schande«, und er forderte dazu auf, das gesellschaftliche Klima in diesem Land zu ändern. Und er ändert es auch, nur in die falsche Richtung: »Wir müssen unterscheiden zwischen Zuwanderung, die die Sozialkassen erheblich belastet, und Zuwanderung, die unseren wirtschaftlichen Interessen entspricht«.

80 Prozent der Asylbewerber hätten kein Bleiberecht. Wenn es gelänge, diese Zahl zu begrenzen, gäbe es größeren Handlungsspielraum für den Staat, mehr Zuwanderung zu ermöglichen, die wirtschaftlichen Interessen entspricht, und Zuwanderung zu verhindern, die diesen Interesse zuwiderläuft. Dazu Petra Pau, Mitglied des Bundestages und Berlin-Beauftragte der PDS-Fraktion: »Das ist ein Denken und eine Sprache, die bislang von NPD und Republikanern gepflegt wird.« Es gehe um Menschen, nicht um Geldsäcke. Es gehe um das Recht auf Asyl, das nicht mit Einwanderung vermischt werden dürfe.

Schily bastelt unterdessen weiter an seiner geplanten Kommission zur Erarbeitung eines Einwanderungsgesetzes im Sinne wirtschaftlicher Interessen. Amtlich ist laut der Nachrichtenagentur ddp inzwischen, daß CDU-Politikerin Rita Süssmuth mit der Leitung betraut werden soll. Vorbild des Gremiums, in dem auch Gewerkschafts- und Kirchenvertreter einen Platz finden sollen, ist die unabhängige Wehrstrukturkommission unter Altbundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU). Offenbar sollen Schilys rassistische Äußerungen und Taten, die folgen sollen, durch einen konstruierten gesellschaftlichen Konsens gestützt werden. Das befürchtet auch die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl: »Schily sucht die große Koalition, um dem subjektiv einklagbaren Asylrecht den Garaus zu machen.«

Teile der erhofften großen Koalition sind allerdings noch mißtrauisch. So wurde Rita Süssmuth, die sich am Montag nicht zu ihrer Tätigkeit in der Kommission äußern wollte, von ihrer Partei verwarnt. Wolfgang Bosbach (CDU) sprach sich gegen ihre Mitarbeit aus. Sollte sie zusagen, könne sie nur für sich und nicht für die Christdemokraten sprechen, sagte er am Montag und kritisierte das Vorgehen der rot-grünen Koalition, die Parteispitzen von CDU und CSU nicht über die geplante Einbindung Süssmuths informiert zu haben.

Das wiederum stieß auf Empörung der Sozialdemokraten. Die Berufung Süssmuths solle nicht schlechtgemacht werden. Die CDU werde sich selbst schaden, wenn sie eine ihrer wichtigsten Persönlichkeiten zerrede. Unbedingt mitmachen wollen die Grünen. Ihr innenpolitischer Sprecher, Cem Özdemir, bezeichnete Süssmuth als »eine hervorragende Wahl«. Weiter forderte er ein Ende der Debatten: »Ich wünsche mir, daß wir aufhören, uns in ideologischen Schützengräben zu bekriegen«. Nach dem Wegknicken in der Atompolitik nun auch der endgültige Abschied aus der Flüchtlingspolitik?

Wera Richter