Berliner Zeitung, 26.06.2000

"Zuwanderung, die unseren Interessen entspricht"

Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) über bessere Integration und eingeschränktes Asylrecht

Der Sozialdemokrat Schily plädiert für eine Reduzierung der Asylbewerber-Zahlen in Deutschland.

In der vergangenen Woche sind 58 Flüchtlinge in einem Lastwagen erstickt, die versucht haben, illegal nach England einzureisen. Muss die EU noch einmal über ihre Asylregelungen nachdenken?

Was in Dover passiert ist, ist grauenvoll. Aber es ist falsch, diese Untat in einen Zusammenhang mit unseren Asylregelungen zu stellen. Es ist vielmehr der Beweis dafür, mit welcher verbrecherischen Brutalität Schleuserbanden vorgehen.

Je schärfer die EU ihre Grenzen kontrolliert, desto gefährlicher werden die Methoden der Schlepperbanden.

Diesen Zusammenhang kann ich nicht akzeptieren. Es sei denn, Sie fordern einen vollständigen Verzicht auf jede Grenzkontrolle. So lange es eine Regelung zur Begrenzung von Migration gibt, wird es Versuche geben, diese Regelung zu umgehen.

Wir haben Sie richtig verstanden: Asyl und illegale Migration haben nichts miteinander zu tun?

Nein. Wenn wir vernünftig diskutieren wollen, müssen wir die Probleme auseinander halten. In der aktuellen Debatte ist häufig alles miteinander verknäult. Selbstverständlich haben Menschen, die politisch verfolgt werden, Anspruch auf Asyl, wenn sie zu uns kommen. Und selbstverständlich werden wir auch in Zukunft Menschen, die vorübergehend in Not sind, aufnehmen, zum Beispiel Bürgerkriegsflüchtlinge. Darüber hinaus gibt es aber noch eine dritte Gruppe: Menschen, die aus sozialen, wirtschaftlichen oder welchen Gründen auch immer zu uns kommen. Nun geht es darum, für die unterschiedlichen Fallgruppen unterschiedliche Regelungen zu finden. In Absprache mit dem Bundeskanzler habe ich entschieden, eine Zuwanderungskommission einzusetzen, die entsprechende Empfehlungen erarbeiten wird.

In der Vergangenheit konnte man den Eindruck haben, dass Sie eher gegen Zuwanderung sind.

Dieser Eindruck ist falsch. Wenn man im Zusammenhang nachliest, was ich zu diesem Thema gesagt habe, wird man feststellen, dass ich Zuwanderung im Grundsatz immer als etwas Positives betrachtet habe.

Sie haben einmal gesagt: "Die Grenze der Belastbarkeit ist überschritten". Würden Sie diesen Satz heute wiederholen?

Der Satz ist leider oft fehlinterpretiert worden. Die Grenze der Belastbarkeit misst sich an den konkreten Zahlen. Es ging damals wie heute um 100 000 Asylbewerber, 100 000 Aussiedler und 60 000 Familiennachzügler, die pro Jahr nach Deutschland kommen. Diesen Zuzug können wir nach der bestehenden Rechtslage nicht steuern. Wer der Meinung ist, dass wir darüber hinaus 100 000 Menschen aus humanitären Gründen aufnehmen sollen, muss zugleich erklären, welches Bundesland und welche Gemeinde dafür aufnahmebereit sind.

Soll das heißen, wir können gar nicht mehr Menschen aufnehmen?

Wir müssen unterscheiden zwischen Zuwanderung, die die Sozialkassen erheblich belastet, und Zuwanderung, die unseren wirtschaftlichen Interessen entspricht. Alle Vorschläge, die auf dem Tisch liegen, enthalten ein Kompensationsmodell. Bei Anwendung eines Kompensationsmodells bleibt Spielraum für Zuwanderer, die wir aus eigenem Interesse nach Deutschland holen wollen.

Wenn der Spielraum so gering ist, worüber soll dann die Kommission noch nachdenken?

Es geht darum, für den Staat Handlungsspielraum zurückzugewinnen, damit wir mehr Zuwanderung ermöglichen können, die unseren Interessen entspricht, und Zuwanderung verhindern, die unseren Interessen zuwiderläuft.

Sogar die CDU spricht mittlerweile davon, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist.

Ich begrüße es sehr, dass sich die CDU zu mehr Realitätssinn durchringt.

Aber die CDU will das Asylrecht weiter einschränken. Sie auch?

Selbst wenn sich jetzt wieder einige empören: Tatsache ist, dass maximal zehn Prozent der Asylbewerber tatsächlich ein Bleiberecht erhalten. Meinethalben könnten wir dieses Kontingent um weitere zehn Prozent erhöhen, um alle Härtefälle zu erfassen. Dann bleiben immer noch 80 Prozent übrig. Nach den Zahlen von 1999 wären das 80 000 Menschen, die in Deutschland Asyl beantragen, aber letztlich keinen Anspruch auf Asyl haben. Wenn es uns gelänge, diese Zahl zu reduzieren, hätten wir Spielraum gewonnen. Aber diese Frage kann nur im Konsens gelöst werden.

Vor der Bundestagswahl wird es kaum einen Kompromiss geben?

Wieso nicht? Wenn ich die jüngsten Äußerungen aus der CDU/CSU-Fraktion für bare Münze nehme, dann bin ich sehr zuversichtlich. Die Zuwanderungskommission soll nicht nur eine akademische Veranstaltung sein.

Die Regierung hat unlängst ein "Bündnis für Demokratie und Toleranz" ins Leben gerufen. Wofür?

Die fremdenfeindlichen Anschläge und Verhaltensweisen in unserem Land sind eine Schande. Staat, Politik und Gesellschaft müssen gemeinsam gegensteuern. Dazu soll auch das Bündnis dienen. Wir haben uns vorgenommen, Menschen zu ermutigen und Initiativen zu fördern, die zum Miteinander unterschiedlicher Kulturen in Deutschland beitragen. Ich könnte mir dabei als ein Element vorstellen, mit den Fernsehanstalten eine Sendung zu konzipieren, die ähnlich wie "Der 7. Sinn" in der Verkehrserziehung die Probleme der Integration anspricht.

Unterstützen Sie die Forderung von Johannes Rau nach einem Integrationsgesetz?

Der Bundespräsident hat unlängst eine hervorragende Rede gehalten, die in den wesentlichen Punkten mit dem übereinstimmt, was ich seit Jahren vertrete. An einem einzigen Punkt bin ich skeptisch. Ich glaube nicht, dass wir ein Integrationsgesetz brauchen. Was sollte mit einem solchen Gesetz besser werden? Wir müssen vor allem das gesellschaftliche Klima verbessern, und das geht nicht mit einem Gesetz.

Muss man öffentliche Auftritte von Rechtsextremisten verhindern - zum Beispiel am Brandenburger Tor?

Demonstrationen der NPD und anderer Rechtsextremisten an Orten mit hohem Symbolwert sind ein ernstes Problem. Natürlich können wir das Versammlungsrecht, das vom Grundgesetz garantiert wird, nicht zur Disposition stellen. Aber vielleicht gibt es die Möglichkeit, ähnlich wie bei den Olympischen Spielen 1972 bestimmte Orte von solchen provokativen Aufzügen freizuhalten. Ich werde mit dem Berliner Innensenator darüber sprechen.

Das Gespräch führten Werner Kolhoff und Matthias Krupa.