Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.6.2000

ALS OB DAS RHEINLAND GEFLUTET WÜRDE

Heute Halfeti, morgen Hasankeyf: Die neuen Staudämme an Euphrat und Tigris vertreiben die Menschen

Rainer Hermann, FAZ

HALFETI/HASANKEYF, im Juni: Wenn Halfeti nicht das Paradies war, so muß es in der Nähe seiner Pforte gelegen haben. Als grüne Oase sicherte das Städtchen im heißen Südosten Anatoliens den Eingang in eine tiefe Schlucht, die über Jahrtausende die Wasser des Euphrat in den Kalkstein geschliffen haben. Die Einwohner von Halfeti lebten im Einklang mit der Natur, ihre Häuser fügten sich harmonisch zwischen die Felsen, Bäume und Gärten ein. Flora und Fauna entfalteten in Halfeti eine bunte Vielfalt wie an wenigen anderen Orten der Türkei.

Dann begann das Wasser zu steigen. Es war, als ob das Rheintal zwischen Bingen und Koblenz einem Staudamm geopfert und für immer überflutet würde. Vierzig Kilometer südlich von Halfeti wurden am 27. Mai die Durchflüsse des neu errichteten Birecik-Damms geschlossen. Allein in den ersten zwei Wochen stieg in Halfeti der Wasserstand um 25 Meter. Dann gewährte Staatspräsident Sezer der Stadt eine Galgenfrist von zehn Tagen. In dieser Zeit wurde aus dem höher gelegenen Atatürk-Staudamm nur wenig Wasser abgelassen, so daß weiter abwärts einige Mosaiken der antiken Stadt Zeugma gerettet wurden. Nun erreicht der Euphrat innerhalb weniger Wochen seinen gewünschten Pegelstand und überflutet fast die Hälfte von Halfeti, darunter die letzten mittelalterlichen Gebäude, die unten noch am Wasser stehen. Zwei Fünftel der 4000 Einwohner ziehen in ein neues Zuhause um.

Noch sitzen einige von ihnen unter Palmen und Walnussbäumen in einem Restaurant am Euphrat und spielen Karten. Es ist das letzte Gartenrestaurant, das ihnen geblieben ist. Wenn die Schleusen des Atatürk-Damms wieder geöffnet werden, wird es geschlossen. Früher, das war bis zum 27. Mai, hatte es viele solcher Restaurants gegeben. Wie das in der Mitte des Flusses, der schon zu einem See geworden ist. Dort wurden noch bis Anfang Juni in einem über dem Euphrat gelegenen Gartenrestaurant Besucher bewirtet. Der Besitzer verzichtete darauf, die Bäume zu fällen. Einige Baumwipfel ragen gerade noch aus dem Wasser. Die meisten Bäume, die überflutet worden wären, wurden aber rechtzeitig gefällt und als Nutzholz verkauft. Begehrt war das harte Holz des Maulbeerbaums, aus dem früher Schiffe gemacht wurden, sagt einer der Kartenspieler. "Nach unserer Meinung hat uns niemand gefragt", sagt der Lehrer Vakaz Kizmaz. Den Staudämmen, denen er die Überflutung seiner Geburtsstadt verdankt, gewinnt Kizmaz nicht viel ab. Diejenigen, die bisher in der Region gebaut worden sind, ändern bereits das Klima, klagt er. Es regne häufiger, die Luft sei feuchter geworden, und die Temperaturen sänken. Das Klima des heißen Südostanatoliens nähere sich damit dem der türkischen Schwarzmeerküste, spottet er.

Für das Wasser unerreichbar hoch über dem Euphrat gelegen, trotzt flussaufwärts die Armenierfestung und spätere Kreuzritterburg Rumkale dem steigenden Pegelstand. Die Assyrer hatten sie im neunten Jahrhundert vor Christus an dieser strategisch bedeutsamen Stelle gebaut. Bis ins 19. Jahrhundert war Rumkale eine der größten und prächtigsten Festungen Anatoliens, die auch der durchreisende Helmuth von Moltke in seinen Briefen aus der Türkei bewunderte. Auf Spuren armenischer Christen weisen in Rumkale eine Kirche und ein Kloster. Auch die Vorfahren vieler der heutigen Einwohner von Halfeti waren noch vor wenigen Generationen praktizierende armenische Christen. Heute führen die Behörden sie mitten im muslimischen Anatolien als Muslime. Halfeti lebte aus seiner Geschichte, zehrte von der Schönheit der Natur. An einer Stelle, die bald überflutet ist, wachsen Magnolien, die sonst nur in dem feuchtheißen Klima Antalyas gedeihen. In Halfeti - und nirgendwo sonst auf der Welt - entfaltet eine Rose im Frühjahr bis Ende Mai schwarze Blütenblätter. Der Euphrat ernährte hier eine Vielfalt von Fischen, Eidechsen und Wasserschildkröten. Der schwarze Waldrapp stolziert durch das Gelände, und Zugvögel, die jeden Februar aus Marokko eintreffen, schwirren in der Luft. Die Bevölkerung fürchte sich vor der Vertreibung aus diesem Paradies, sagt der pensionierte Schulschreiber Mustafa Kemal Evren. Wer bleiben kann, wird in einer fast halbierten Stadt leben, wer im unteren Teil der geteilten Stadt sein Haus hatte, muß in das zehn Kilometer entfernte "Neue Halfeti" umsiedeln. Der einzige Vorteil für sie wird sein, daß es auf einem der höchsten Hügel in der Region liegt - unerreichbar für die Wasser der umliegenden Dämme, ein Ort, an dem die Arche Noah anlegen könnte. Unten im Tal sprießen aus der kräftigen roten Erde Pistazienbäume. Oben nichts als nackte, karge Wüste. Nichts, was das Auge erfreuen könnte. Kein Blick auf Wasser. Nur auf die immer gleichen Schuhschachtelhäuser der Nachbarn, die bis auf die Farbe, die sich wenigstens blockweise ändert, geklont scheinen. Ein Bauunternehmen mit guten Beziehungen in Ankara habe an diesen Scheußlichkeiten sicher viel Geld verdient, sagt einer.

Was sich heute in Halfeti am Euphrat ereignet, wiederholt sich morgen in Hasankeyf am Tigris. Hasankeyf ist gewiß keine grüne Oase wie Halfeti, aber ein Gesamtkunstwerk aus Natur und Geschichte. Den Menschen heute nutzt das nur nichts. Seit mehr als zwei Jahrzehnten sei keine türkische Lira mehr investiert worden, klagen die Einheimischen, und jetzt habe der nahende Baubeginn am Ilisu-Damm die letzten Hoffnungen auf eine wirtschaftliche Besserung zerstört, Auf zehn abwandernde junge Menschen kommt nur einer, der bleibt. In der kargen Landschaft ernährt die Viehzucht nur einige der 5500 Einwohner, der Fischfang im Tigris noch weniger. Seit zwei Monaten ist der Grenzübergang Habur zum Nordirak wieder einmal geschlossen, und so halten keine Lastwagen nehr auf ihrem Weg in den Irak und von dort. Der Ilisu-Damm wird ohnehin diese Route zwischen dem Nordirak und den kurdischen Provinzen unter seinen Wassern begraben. Wenigstens reisen wieder einige ausländische Touristen durch Hasankeyf, wenn auch nur eine Hand voll jeden Tag. Früher, vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs zwischen der kurdischen Guerrilla und dem türkischen Staat, hatten vor allem Deutsche Hasankeyf auf ihre Reiseroute gesetzt. In diesem Jahr hat ein "Untergangstourismus" eingesetzt, kommen wieder einige, um eine Stadt zu sehen, die - zusammen mit 185 anderen Gemeinden - in weniger als zehn Jahren von der Landkarte getilgt sein könnte. Heute ist den kurdischen und arabischen Bewohnern der Stadt bewußt, daß ihre volkstümliche Übersetzung von Hasankeyf als "gute Laune" nicht zutreffen kann.

Entstanden ist der Name der Stadt aus dem arabischen Hisn für Burg und dem syrianischen Kifo für Fels. Ist der Damm einmal gefüllt, ragt nur noch diese Felsenfestung, die uneinnehmbar über dem Euphrat thront, wie eine Insel aus dem Wasser. Die Täler werden mit ihren Höhlenwohnungen und Gärten, den Moscheen und Mausoleen untergegangen sein. Nur noch die Spitze des Minaretts der Rizk-Moschee wird an sie erinnern. Denn der Ilisu-Damm wird eine Höhe von 130 Metern haben, er wird der zweitgrößte der Türkei sein mit einem Kraftwerk, das die Stromproduktion der Türkei aus Wasserkraft um ein Achtel aufstockt. Dennoch will keiner der Einwohner auch nur einen Fußbreit weichen. Wir werden in unseren Häusern bleiben, selbst wenn wir mit untergehen, lautet der einstimmige Tenor. Zitiert werden will aber keiner. Zu stark sind noch die Jahre des Terrors und der Repression präsent, zu groß ist das Mißtrauen gegenüber dem türkischen Staat, von dem keiner Gutes erwartet. Jeden beschäftigt die Frage, ob die Regierungen der sieben europäischen Lieferländer unter ihnen Deutschland - und der Vereinigten Staaten für den Bau des Damms Exportkreditgarantien ausstellen werden. Ohne sie ist das 1,5 Milliarden Dollar teure Projekt nicht zu finanzieren. Aus eigener Kraft bringt der türkische Staat diese Summe ohnehin nicht auf. "Unsere Krankheit ist der Damm, unser Arzt, das sind die Regierungen Europas", sagt einer oben auf der Festung und blickt auf den abwärts kommenden Tigris.

Einige Objekte, wie die Brücke aus dem 13. Jahrhundert, könnten gerettet werden, sagen die Archäologen. Ohne die Einbettung in die Topographie, aus der sie entstanden sind, verlieren sie aber ihre Ausstrahlung. Ist die Finanzierung für den Damm einmal unterzeichnet, haben die Archäologen noch sieben Jahre Zeit. Viel zu wenig für eine Stadt, die seit Jahrtausenden durchgehend besiedelt ist, die wegen ihrer Burg und ihrer Lage am Tigris stets strategisch und kommerziell bedeutend war und von 1101 bis 1232 sogar Hauptstadt der Dynastie der Artukiden, die als eine der gebildetsten türkischen Dynastien des Mittelalters gilt. Noch sind die Archäologen unter Leitung von Olus Arik bei ihren Grabungen in der Unterstadt, mit denen sie 1998 begonnen haben, nicht über das Mittelalter hinausgekommen. Sie schließen aber nicht aus, in den Tausenden Höhlen und Grotten im den Festungshügel sogar auf vorneolithische Spuren zu stoßen.

Die Behauptung kurdischer Aktivisten, daß der Ilisu-Damm gebaut werde, um den Kurden ihre Geschichte zu nehmen, ruft bei den Archäologen nur Kopfschütteln hervor. Ethnische Türken seien weit mehr als Kurden von Umsiedlungen betroffen, und Hasankeyf sei auf dem Gipfel seines Glanzes die Hauptstadt einer türkischen Dynastie gewesen, sagen sie. Zu bedenken geben sie aber, ob der türkische Staat mit dem Bau des Ilisu-Damms nicht gegen eigenes Recht verstoße. Bereits 1981 habe Ankara Hasankeyf in die Liste der denkmalgeschützten archäologischen Stätten des Landes aufgenommen, an denen keine Bauarbeiten ausgeführt werden dürften. Zuvor hat die Türkei im August 1999 die Malta-Konvention zum Schutz des kulturellen Erbes bei Baurnaßnahmen ratifiziert und dabei sich verpflichtet, Rettungsaktionen einzuleiten, um den Verlust des Kultur in Grenzen zu halten. Den Beweis, daß die Türkei die Malta-Konvention ernst nimmt, hat sie in Halfeti noch nicht erbringen müssen. In Hasankeyf besteht dazu eine Gelegenheit.