Frankfurter Rundschau, 20.6.2000

Tödliche Überfahrt ins "gelobte Land"

Das schreckliche Ende von 58 Flüchtlingen löst in Britannien Debatten über das Übel des Menschenschmuggels aus

Von Peter Nonnenmacher (London)

Es war kein schöner Anblick, der sich den Grenzbeamten in der englischen Hafenstadt Dover in der Nacht zum Montag bot. In einem Tomaten-Laster aus Zeebrügge, dessen Laderaum die Briten hatten öffnen lassen, fanden sie 58 Leichen zwischen den Gemüsekisten. 54 Männer und vier Frauen "orientalischer Herkunft" - angeblich Chinesen - waren bei der Überfahrt auf die Insel am heißesten Tag des Jahres in einem luftdicht versiegelten Container erstickt. Zwei Männer atmeten noch, als sie gefunden wurden. Sie wurden umgehend ins Krankenhaus begracht.

"Horrend" sei die Entdeckung gewesen, meldete ein Kollege des Beamten, der zuerst auf die Toten gestoßen war - der Mann selbst, von seinem mitternächtlichen Fund überwältigt, musste sich wegen Schocks behandeln lassen. Der Schock indes setzte sich binnen kurzer Zeit bis in die höchsten Londoner Regierungsetagen fort. "Empört" sei er über "dieses scheußliche Ereignis" und über "diesen Verlust an menschlichem Leben", sagte Innenminister Jack Straw am Montagmorgen. Die Regierung sei "vollkommen entschlossen, dem Übel dieses Menschenhandels ein Ende zu bereiten".

Auch Premierminister Tony Blair, just zum EU-Gipfel in Portugal eingetroffen, bekräftigte seine Abscheu über die nächtliche Entdeckung an der heimischen Küste. Wiewohl man noch die Einzelheiten abwarten müsse, unterstreiche dieser Fall doch die absolute Notwendigkeit, den inhumanen Handel mit Flüchtlingen und illegalen Immigranten ein für alle mal "auszutreten", meinte Blair. Zu diesem Zeitpunkt war der Lastwagen-Fahrer, der die Tomaten-Fracht und die separat verstauten Opfer in einem Wagen mit holländischem Nummernschild nach England gesteuert hatte, bereits verhaftet. Zusammen mit kontinentalen Kollegen fahndete Scotland Yard nach der genauen Route des Lasters auf dem Weg nach Zeebrügge.

In Dover selbst war man über das Ausmaß des Unglücks offenkundig erschrocken, von seinem Eintreffen aber kaum überrascht. Seit Jahren schmuggeln Lkw-Fahrer illegale Immigranten über den Kanal, und schon in der Vergangenheit erreichten viele der Geschmuggelten nur äußerst erschöpft, am Ende ihrer Kräfte, die Insel, oder kamen in einzelnen Fällen auch um, bevor sie ihr Ziel erreichten. Lange Transporte vor der Überfahrt, Sauerstoff-Mangel, Hitze, üble Zustände in versiegelten Wagen forderten den blinden Passagieren das Äußerste ab.

Warnungen der Grenzpolizei waren oft genug ergangen. Aber der unumstößliche Wille der Immigranten, nach England überzusetzen, und eine lockende Prämie für interessierte Chauffeure - bis zu 3 000 Mark pro Passagier - machten die Warnungen weitgehend wirkungslos. 20 000 illegal angereiste Asylbewerber wurden von Grenzbeamten und Polizei allein im vergangenen Jahr im Hafen von Dover aufgelesen: In einer einzigen Februarwoche dieses Jahres waren es 632 Personen.

"Unsere Mitglieder sagen uns, dass die Situation völlig außer Kontrolle geraten ist", klagte zu dieser Zeit der Sprecher der Grenzer-Gewerkschaft, Peter Taylor. "Die Moral war noch nie so im Keller. Und jeden Tag scheint es schlimmer zu werden." Vier Monate später ist der Strom etwas eingedämmt, aber noch lange nicht ausgetrocknet. Auch die Anordnung der Regierung, jeder Lastwagen-Fahrer werde bei der Entdeckung blinder Passagiere automatisch mit einer Strafe von 2 000 Pfund (6 000 Mark) pro Passagier belegt, hat den Menschenhandel keineswegs so beenden können, wie es Premier Blair und Innenminister Straw vorschwebte. "Der Profit, den kriminelle Gangs machen können, indem sie Menschen statt beispielsweise Drogen schmuggeln, ist wahrhaft beträchtlich", räumte Straw ein. Auf vielfache Milliardenhöhe bezifferte jüngst die Londoner Times den Wert des internationalen Flüchtlings- und Asylanten-Handels.

Nicht immer sind die Lastwagen-Fahrer an diesen Deals beteiligt. "Viele der Immigranten schneiden Löcher in die Leinwand, ohne dass der Fahrer etwas davon bemerkt", klagt etwa John Gorr, ein englischer Lastwagen-Fahrer, der der kollektiven Beschuldigungen überdrüssig ist. "Wir zahlen schon genug", pflichtet ihm sein walisischer Kollege Mike Jenkins bei, "als dass wir noch das Risiko von Strafgeldern auf uns nehmen könnten." Skeptisch steht diesen Beteuerungen die Abgeordnete für Dover, Gwyn Prosser, gegenüber: "Ich war kürzlich dabei, als 101 Immigranten in einem Lastwagen entdeckt wurden. Der Fahrer zuckte die Schultern und gab an, von nichts gewusst zu haben. Das glaubt denen doch kein Mensch, dass die keine Ahnung haben!"

In der Tat scheinen vor allem größeren Gruppen-Transporte sorgfältig organisiert zu sein. Im Falle des tödlichen Transportes vom Sonntag zum Beispiel glauben Experten die Handschrift chinesischer Banden erkennen zu können. Der "phänomenale Anstieg" illegaler chinesischer Einwanderung in den letzten Monaten, meint der Londoner Kriminologe Graham Leese, sei Eingeweihten bereits aufgefallen - 400 Personen allein im Monat Mai. Neuerdings, ist aus der chinesischen Bevölkerung Britanniens zu hören, werde auf diese Weise "Sklavenarbeit" für China-Restaurants beschafft: Der Ware Mensch wird hier kein großer Wert beigemessen.

Andere Immigranten, vor allem Einzel-Flüchtlinge und kleine Gruppen, versuchen aber zweifelsohne auch, sich in bereitstehenden Lastwagen zu verstecken, wenn sie keinen Fahrer finden können, der sie mitnimmt. "Ich habe schon alles versucht", bekannte jüngst gegenüber Reportern in Calais ein iranischer Flüchtling namens Mirza. "Ich habe versucht, mich unterm Ersatzreifen zu verstecken, mich ans Chassis anzuhängen - alles." Mehrere Versuche schlugen fehl, aber die Fehlschläge konnten Mirza nicht entmutigen: "Ich versuche es wieder. Ich schaffe es schon noch. Nur umbringen will ich mich natürlich nicht."

Drüben in Calais, wo sich in einer ausgedienten Fabrik der Kanal-Untertunneler Tausende von Flüchtlinge in einem französischen Not- und Auffang-Lager tummeln, haben die meisten schon tage- oder wochenlange strapaziöse Reisen hinter sich und viele bereits ein Vermögen für ihre "Überführung" nach Calais ausgegeben. Den letzten Schritt, über den Kanal, zu machen, sind die Angereisten in der Regel aber wild entschlossen. "Britannien ist eine Art El Dorado für sie", erklärt es sich Rotkreuz-Direktor Michel Derr. "Sie wissen, dass sie Behausung bekommen, wenn sie es hinüber schaffen, und dass ihnen Essen und Unterstützung und die Möglichkeit von Arbeit auf dem Schwarzmarkt winkt." Außerdem sei England "der Eintrittspunkt für die angelsächsische Welt": Von hier gehe es, mit etwas Glück, weiter nach Kanada oder in die USA.

Der wirtschaftliche Aufschwung Großbritanniens in den vergangenen Jahren hat gewiss das seine getan, immer mehr Immigranten Richtung Insel zu ziehen - was zu Warnungen der Tory-Opposition und der rechten Boulevardblätter und zu scharfen Tiraden gegen "Wirtschaftsflüchtlinge" und "Bettelzigeuner" geführt hat. Auch Blairs Labour-Regierung hat unter dem Druck der konservativen Stimmungsmache den Ton gegen Asylanten und Asylbewerber wesentlich verschärft.

Mit einem neuen Asylgesetz, das die staatliche Beihilfe für bedürftige Asylbewerber auf 30 Prozent unter das Maß landeseigener Sozialhilfe drückt, das Asylanten legale Einkünfte verbietet und Einkäufe nur mit Gutscheinen möglich macht (bei deren Einlösung kein Wechselgeld erhältlich ist), haben Blair und Straw das gelobte Insel-Land um seinen Strahlenkranz zu bringen versucht. Künftig sollen in Britannien Asylbewerber in alle Lande zerstreut werden (freilich will keine Gemeinde nenneswerte Gruppen aufnehmen), und wenn alle Stricke reißen, ist die Entmottung stillgelegter Militäranlagen, mit Soldaten an den Kasernentoren, geplant.

Wie weit solche Maßnahmen desparate Flüchtlinge abschrecken werden, weiß jedoch auch die britische Regierung nicht zu sagen. Mit den periodischen Fluchtwellen aus östlichen und afrikanischen Krisengebieten, mit dem in Gang gekommenen Menschenhandel im Schatten dieser Krisen macht man sich auch im neuen El Dorado Europas auf weitere Katastrophen gefasst. "Im Grunde", meinte Außenminister Robin Cook, "sind wir uns ja alle einig, dass das ein gemeinsames europäisches Problem ist." Mit Grenzkontrollen in Dover, Infrarot-Geräten in Zeebrügge und Kohlenstoff-Detektoren im Lkw-Gehäuse allein wird es wohl kaum getan sein.