Süddeutsche Zeitung, 21.6.2000

Festung mit Zugbrücke

Die EU und ihre Asylregelung / Von Heribert Prantl

Als der Schweizer Jurist und Journalist Beat Leuthardt 1994 ein Handbuch "Festung Europa" veröffentlichte, musste er sich von Politikern und Polizeistrategen in Bonn, Brüssel, Wien und Bern anhören, dass es eine solche Festung nicht gebe: "Gehen Sie hinaus, schauen Sie sich um in Europa und zeigen Sie uns die angeblichen Opfer dieser Festung Europa." Heute, nach der Tragödie von Dover, würde kaum ein Politiker oder Beamter mehr so reden. Damals hat Leuthardt zu recherchieren begonnen, ist an die Außengrenzen Europas gefahren und hat die Geschichten aufgeschrieben, die ihm dort begegnet sind: Zum Beispiel die von den Migranten aus Marokko, die mit überladenen Fluchtbooten nach Spanien übersetzen und kentern oder von den Fluchthelfern aus dem Boot geworfen werden.

Es gibt keine Statistiken darüber, wie viele Menschen auf dem Weg in den vermeintlich Goldenen Westen erfroren, erstickt oder ertrunken sind. Aber die Innenminister der EU-Staaten kennen nicht erst seit Dover das Problem: Je rigoroser die Abschottung, desto näher liegen solche Tragödien. Bei der EU-Konferenz im finnischen Tampere im Oktober 1999 haben die Staats- und Regierungschefs der EU erstmals eingeräumt, dass eine Politik des bloßen Einmauerns nicht funktionieren kann. Zwar wurde zum x-ten Mal beschlossen, die Außengrenzen besser zu sichern, die Schlepperbanden intensiver zu bekämpfen und eine gemeinsame Abschiebepolitik zu entwickeln. Andererseits kündigten sie eine Politik zur Bekämpfung der Fluchtursachen an. Vor allem aber unterstrichen sie den Grundsatz, dass Verfolgte weiter Aufnahme finden müssen; man sprach von "einem absoluten Respekt des Asylrechts". Die verschrobene grammatikalische Konstruktion zeigt, wie schwierig es war, eine Formel zu finden.

Europäischer Sperrriegel

Aber immerhin: Bis dahin hatte sich die EU Konferenz um Konferenz nur mit den Bauplänen für die Festung Europa befasst - beginnend mit den "Londoner Entschließungen" von 1992, in denen die Drittstaatenregelung erfunden wurde, die dann im neuen deutschen Asylrecht sogleich exekutiert wurde. Danach sind Deutschland und die EU als Ganzes von angeblich sicheren Drittstaaten umgeben, in denen es keine Verfolgung, dafür aber Asyl gibt; dorthin sollen sich die Flüchtlinge begeben. Für den Asylsuchenden, der auf dem Landweg in die EU kommen will, bleibt daher nur illegale Einreise übrig. Für die Direkteinreise gibt es nur noch das Flugzeug. Also hat die EU zum einen die Kontrollen in die Abflugländer vorverlegt, zum anderen die Kategorie der "sicheren Herkunftsländer" eingeführt; wer aus den als sicher deklarierten Ländern kommt, erhält kein Asyl.

Das Postulat von Tampere besagt: Flüchtlinge müssen wenigstens eine kleine Chance haben, Schutz in der EU zu finden - um ihr Heil nicht in einem Container suchen zu müssen. Die EU hat sozusagen das Modell der Festung mit Zugbrücke kreiert. Das ist nun acht Monate her. Die europäische Zugbrücke existiert nach wie vor nur auf dem Papier. Der Weg vom Europäischen Rat zur europäischen Tat ist lang.