Baseler Zeitung 21.06.2000

Die Türkei, Europa und der Kemalismus

«Alle wissen, dass es so nicht weitergeht - und doch gibt es keine Anzeichen für Reformen»: Auf diese Kurzformel bringt der Soziologe und Politologe Hamit Bozarslan die politische Situation in der Türkei. Bozarslan, geboren 1958 in der südostanatolischen Kurden-Metropole Diyarbakir, ist Dozent an der «Ecole des hautes études des sciences sociales» in Paris. Gestern Dienstag hatte er einen Gastauftritt am Europainstitut der Universität Basel.

Unter Reformdruck steht die Türkei, weil sie Mitglied der Europäischen Union werden will. Als die EU im letzten Dezember die Türkei formell als Beitrittskandidatin anerkannte, knüpfte sie daran eine lange Liste von Forderungen zur Respektierung von Demokratie, Menschen- und Minderheitenrechten. Für die «Situation der Blockade» macht Bozarslan im Gespräch mit der BaZ das Erbe des Kemalismus und den dominierenden politischen Einfluss der Armee verantwortlich.

Ironie der Geschichte

Die Spätfolgen des Kemalismus als Hindernis auf dem Weg der Türkei Richtung Europa - das ist eine Ironie der Geschichte. Kemal Atatürk, Gründerfigur und 1923 erster Präsident der modernen Türkei, entwarf eine Staatsideologie, die stark auf Europa und die Modernisierung nach westlichem Vorbild ausgerichtet war. Mit der Trennung von Kirche und Staat verbannte Atatürk den Islam aus dem Feld der Politik. Ausserdem propagierte er einen rücksichtslosen Nationalismus, den er nach dem Untergang des Osmanischen Reiches als Rückgrat der modernen Türkei verstand. Hamit Bozarslan sieht die Türkei heute vor der Aufgabe, «mit der Doktrin des Kemalismus zu brechen». Denn aus ihr leitet sich die andauernde Repression gegen Kurden und Islamisten ab. Und ein Ende dieser Repression ist Voraussetzung dafür, dass die Türkei die Bedingungen der EU in Sachen Demokratie und Menschenrechte erfüllen kann.

Kultur des Misstrauens

Zeichen für ein Umdenken vermag Bozarslan allerdings nicht zu erkennen. Seit der Inhaftierung von Kurdenführer Abdullah Öcalan und dem Waffenstillstand der PKK-Kämpfer habe die türkische Regierung in der Kurdenfrage nicht die geringste Kompromissbereitschaft gezeigt. In der Arena der Politik halten sich das Lager der Reformer und der Reformgegner in einer Pattsituation gefangen. Und hinter den Kulissen ist es weiterhin die Armee, die - unter Berufung auf die Grundsätze des Kemalismus - in allen entscheidenden Fragen den Ton angibt. Ein Bruch mit dem Kemalismus wäre für Bozarslan auch ein Bruch mit jener «Kultur des Misstrauens», welche «die türkische Geschichte als eine Abfolge von Komplotten zur Zerstörung der Nation» versteht. In diesem paranoiden Geschichtsbild erkennt der Politologe zumindest einen Teil der Erklärung für das hohe Mass an staatlicher Repression und militärischer Gewalt: «Jeder politische Gegner wird als Feind und jeder Konflikt als Bedrohung wahrgenommen.» Von Europa erwartet der kurdisch-türkische Politologe Geduld und die Bereitschaft, «die Türe nicht vorschnell zu verschliessen». Moralische, rechtliche und finanzielle Hilfe von aussen sei hilfreich - aber letztlich müsse die Demokratie in der Türkei «von innen und aus eigener Kraft wachsen». Markus Lohr