Frankfurter Rundschau 20.06.2000

Verbrecherische NATO-Luftangriffe?

Zu dem Artikel Ein Tribunal erweitert den Blick auf alle Parteien des Kosovo-Krieges" (FR vom 5.6.2000): Ob die NATO-Luftangriffe auf zivile Ziele in Serbien 1999 verbrecherisch waren, das ist offenbar eine zu wichtige Frage, um sie einer so miserabel orchestrierten Veranstaltung wie dem "Europäischen Tribunal gegen den NATO-Krieg in Jugoslawien" am 3. und 4. Juni 2000 in Berlin zu überlassen.

Anklage, Verteidigung, Expertenrunde und Richterbank: Alle Rollen waren mit notorischen NATO-Gegnern, USA-Feinden und DDR-Juristen besetzt.

Der vom Westen genannte Interventionsgrund, die Massenvertreibung der Kosovo-Albaner durch das serbische Regime von Slobodan Milosevic, wurde nicht weiter untersucht.

Damit haben die Veranstalter den Blick eher verstellt. Zudem haben sie das Mittel der "Russell-Tribunale", mit dem seit dem Vietnam-Krieg erfolgreich auf schreiendes Unrecht in verschiedenen Teilen der Welt aufmerksam gemacht wurde, perfekt diskreditiert. Umso mehr überrascht die kritiklose Berichterstattung durch Peter Nowak.

Da wird der Vorsitzende dieses Gerichts, der Hamburger Völkerrechtsprofessor Norman Paech, mit den Worten zitiert, dass das Internationale Kriegsverbrecher-Tribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag (ICTY) ein "von der NATO finanziertes Gremium" sei, von dem nur serbische Kriegsverbrechen angeklagt würden.

Das ist nicht nur in der Sache falsch, sondern auch politisch dumm. Das ICTY ist ein Organ der Vereinten Nationen, das in den letzten Jahren trotz erheblicher Finanznöte Anlaufschwierigkeiten internationale Anerkennung für seine überparteiliche und zukunftsweisende Rechtsprechung erworben hat.

Zu Kriegsverbrechen während des Krieges in Bosnien-Herzegowina 1992 bis 1995 hat es drei Prozesse gegen muslimische Angeklagte geführt und hochrangige kroatische Offiziere verurteilt.

Waehrend der Kaempfe im Kosovo seit Februar 1998 hat das ICTY mehrmals seine Eigenständigkeit gegenueber der westlichen Drohungspolitik behauptet. Anstatt weiterhin Freiheit fuer den PKK-Fuehrer Ocalan zu fordern, der einen Teil der ihm von der Türkei vorgeworfenen Untaten tatsaechlich begangen hat, wäre Norman Paech besser beraten, ein internationales Türkei-Tribunal nach erfolgreichem Haager Vorbild zu verlangen, das auch türkische (NATO-)Generäle zur Verantwortung ziehen würde.

Dr. Andreas Selmeci, Göttingen