Spiegel online 17.06.2000

Präsident fordert Abschaffung der Todesstrafe

Steter Tropfen höhlt den Stein: Überraschend forderte der türkische Präsident Ahmet Necdet Sezer nun die Abschaffung der Todesstrafe, die "das größte Hindernis" auf dem Wege in die Europäische Union" darstelle.

Istanbul/Ankara - Sezer forderte die "umgehende Abschaffung" der Todesstrafe bei einem Treffen mit Mitgliedern des Ministerrates.

Nach einem Bericht der Zeitung "Hürriyet" sagte Sezer, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte könnte in den nächsten fünf bis sechs Monaten im Fall des zum Tode verurteilten PKK-Chefs Abdullah Öcalan eine Entscheidung fällen. Die Türkei solle noch vor diesem Urteil die Todesstrafe abschaffen, forderte der Präsident.

Auch Ministerpräsident Bülent Ecevit hatte sich vor wenigen Tagen erneut für eine baldige Abschaffung der Todesstrafe ausgesprochen. Die an der Regierung beteiligte Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) will die Abschaffung zwar unterstützen, fordert aber die Hinrichtung Öcalans.

Der Chef der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) war vor knapp einem Jahr wegen Hochverrats und zahlreicher Morde zum Tode verurteilt worden. Außer Öcalan sitzen noch weitere Todeskandidaten in türkischen Gefängnissen. Erst am Freitag wurden 33 Todesurteile gegen islamische Fundamentalisten bestätigt.

Seit 1984 ist die Todesstrafe in der Türkei formell nicht mehr vollstreckt worden. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International weißt in ihrem Länderbericht Türkei 2000 jedoch darauf hin, dass aus dem gesamten Land "immer wieder Berichte über Folterungen" eingingen, "die das Leben mehrerer Menschen gefordert haben sollen". So seien in der geschlossenen Vollzugsanstalt in Ankara im September 1999 zehn politische Gefangene unter umstrittenen Umständen von Sicherheitsbeamten getötet worden.