Le Monde diplomatique 16.6.2000

Griechen und Türken entdecken die Vorteile guter Nachbarschaft

DIE ENTSPANNUNG ZWISCHEN ANKARA UND ATHEN IST EIN EUROPÄISCHES PROJEKT

DIE historische "Erbfeindschaft" zwischen der Türkei und Griechenland scheint seit den Erdbeben des letzten Jahres überwunden. Athen unterstützt heute die EU-Ambitionen Ankaras, indem griechische Diplomaten ihren türkischen Kollegen helfen, sich für die Sachverhandlungen mit den EU-Organen fit zu machen. Türkische Soldaten haben erstmals an einem Nato-Manöver auf griechischem Boden teilgenommen. Ist die Détente zwischen Athen und Ankara bereits irreversibel? Entscheidend wird sein, ob die kemalistische Elite der Türkei die EU-Perspektive als Herausforderung für eine echte Demokratisierung begreift.

Von NIELS KADRITZKE Als Anfang der Neunzigerjahre der griechische Außenminister Michalis Papakonstantinou seinen türkischen Kollegen nach Athen einladen wollte, hatte er ein Problem. Im Außenministerium waren alle denkbaren Empfangsräume mit historischen Wandgemälden ausgestattet, die ein griechisch-türkisches Gemetzel zeigen.

Das schwierige Verhältnis der beiden Nachbarländer ist mit Geschichte überfrachtet. Griechenland erkämpfte seine Unabhängigkeit in den 1820er-Jahren gegen die osmanische Herrschaft, die auf griechisch turkokratia heißt. Hundert Jahre später entstand die moderne Türkei im Kampf gegen eine griechische Invasionsarmee, die in Kleinasien auf den Ruinen des Osmanischen Reiches das vermessene Projekt eines neugriechischen Imperiums realisieren wollte.

Die historisch bedingte Feindschaft schien mit dem Lausanner Vertrag von 1923 beigelegt, als die beiden Länder, um den ethnopolitischen Zündstoff zu beseitigen, den ersten obligatorischen Bevölkerungsaustausch der Geschichte vereinbarten.1 Doch seit 1955 heizte der Zypern-Konflikt den Antagonismus wieder an. 1973 kamen Spannungen und konkurrierende Ansprüchen in der Ägäis hinzu, die 1996 fast zu einer griechisch-türkischen Seeschlacht um eine unbewohnte griechische Insel geführt hätten.2

Seit 1999 scheint alles anders. Das Erdbeben, das im August 1999 die türkische Marmara-Region heimsuchte, löste in Griechenland eine Welle der Hilfsbereitschaft aus, die einen Entspannungsprozess begünstigte. Diese atmosphärische Veränderung stabilisierte sich im Oktober 1999, als ein Erdbeben in der Athener Region eine reziproke Solidarität in der Türkei auslöste. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich das, was viele Beobachter als "Erdbeben-Diplomatie" bezeichnen und als entscheidenden Faktor für die Verbesserung der türkisch-griechischen Beziehungen ansehen. Man darf dabei freilich nicht übersehen, dass sich ein atmosphärischer Wandel schon vor August 1999 angebahnt hatte, der durch die Wachablösung im Athener Außenministerium ermöglicht wurde.

Im Februar 1999 musste Außenminister Theodoros Pangalos im Gefolge der Öcalan-Krise zurücktreten. Öcalan war von einem berüchtigten Chauvinisten, dem Admiral a. D. Naxakis, hinter dem Rücken der Regierung (aber vermutlich mit Wissen von Geheimdienstkreisen) nach Griechenland eingeschleust wurden. Pangalos verlor seinen Posten, weil er versucht hatte, den Vorgang zu verheimlichen und Öcalan diskret nach Kenia zu verfrachten, wo dieser vom türkischen Geheimdienst aufgegriffen wurde. Die Nachfolge von Pangalos trat Jorgos Papandreou an, der zuvor als Zweiter Außenminister für die griechische Europapolitik zuständig war. Dessen Posten übernahm der vorherige Staatssekretär Ioannis Kranidiotis, der als strategischer Kopf des Außenminsteriums seit langem eine europäische Perspektive der Türkei befürwortete.3 Es gehört zu den Ironien der griechisch-türkischen Geschichte, dass ausgerechnet die schärfste bilaterale Krise die personellen Voraussetzungen für eine Wende produzierte.

Die neue Doppelspitze im Athener Außenministerium strebte eine Verständigung mit Ankara vor allem im Hinblick auf die Krise auf dem Balkan an, wo beide Länder - nicht nur im Hinblick auf die Kosovo-Frage - weitgehend identische Positionen vertreten: Die Grenzen müssten unantastbar sein und ethnische Minderheiten sollten umfassende Rechte, aber kein Recht auf Sezession genießen. Implizit versicherten sich beide Länder also gegenseitig - mit unterschiedlichem Grad von Heuchelei in der Minderheitenfrage -, die territoriale Integrität des anderen zu respektieren. Athen signalisierte indirekt, dass auch "die Kurdenfrage" die Integrität des türkischen Staates nicht in Frage stelle, und distanzierte sich damit von dem - in nationalistischen und militärischen Kreisen - virulenten Faible für den PKK-Separatismus.4 Ankara wiederum bestätigte die Integrität der türkisch-griechischen Grenze in Thrazien, die aus griechischer Sicht durch einen türkischen Irredentismus bedroht sein könnte.

Den griechisch-türkischen Spannungsherd Thrazien versuchte Papandreou bereits vor August 1999 zu entschärfen. Als erster griechischer Politiker bescheinigte er der muslimischen Bevölkerung in Westthrazien, die nach Athener Sprachregelung bis dahin nur als "muslimische Minderheit" galt, das Recht auf eine ethnische Selbstdefinition, etwa als Türken, Pomaken oder Roma. Bereits als Europaminister unter Pangalos hatte Papandreou die Revision des Art. 19 der griechischen Verfassung betrieben, der die turkophonen Griechen massiv diskriminierte. Beide Schritte bedeuteten zwar lediglich die Umsetzung dessen, was die Unterschrift Athens unter die Minderheitenkonvention des Europarats ohnehin forderte. Aber indem Papandreou die griechische öffentliche Meinung zwang, endlich die europäischen Mindestnormen anzuerkennen, popularisierte er zugleich den Gedanken, dass eine Türkei, die als EU-Mitglied an dieselben Normen gebunden wäre, für Griechenland automatisch ein besserer Nachbar sein würde. Die "Anerkennung" der türkischen Minderheit war mithin ein kaum wahrgenommener, aber wichtiger Schritt zu einer neuen Türkeipolitik, die im Dezember 1999 den historischen Beschluss von Helsinki ermöglichte.

Auf dem EU-Gipfel in Finnland gab Griechenland sein langjähriges Veto gegen den Kandidatenstatus des östlichen Nachbarn auf. Für die Türkei ist seitdem die "Tür nach Europa" entriegelt. Ob sie diese Tür durchschreitet, hängt nun nicht mehr von Athen ab, sondern in erster Linie von der herrschenden politisch-militärischen Klasse in Ankara. Die muss sich entscheiden, ob und wann sie die "Kopenhagener Kriterien", die für jedes Kandidatenland gelten, zu erfüllen gedenkt.

Die Dynamik der griechisch-türkischen Détente wird häufig als persönliches Verdienst der beiden Außenminister Jorgos Papandreou und Ismail Cem wahrgenommen. In der Tat haben die beiden mit ihren regelmäßigen Kontakten ein solides Fundament für das künftige griechisch-türkische Verhältnis zementiert. Doch die weitere Entwicklung wird weniger von personellen Konstellationen als von strukturellen Bedingungen bestimmt sein, zumal der griechisch-türkische "Honeymoon" in eine Phase nüchterner Besinnung auf die ungelösten grundlegenden Probleme eingetreten ist.

So hat die griechische Regierung den türkischen Vorschlag abgelehnt, die symbolische Entspannung auf die militärische Ebene auszuweiten. Zwar haben vor kurzem erstmals griechische und türkische Militäreinheiten im Rahmen von Nato-Manövern auf dem Territorium des früheren "Erbfeindes" agiert. Im April beteiligte sich ein griechisches Kriegsschiff an dem Nato-Seemanöver Deniz Kurdu vor der türkischen Südküste.Von Mitte Mai bis Anfang Juni operierten türkische F-16-Kampfflugzeuge und 150 türkische Infanteristen im Rahmen des Nato-Manövers Dynamic Mix in der Ägäis und auf der Peloponnes. Doch der bilaterale Besuchsaustausch von Marine-Einheiten, den Ankara angeregt hatte, ging Athen zu weit.

Das hatte auch, aber nicht nur, mit den griechischen Wahlen vom 9. Mai 2000 zu tun. Die Türkeipolitik war zwar kein zentrales Wahlkampfthema, denn angesichts der breiten Zustimmung zur Türkeipolitik der Regierung (nach Umfragen ca. 75 Prozent der Bevölkerung) begrüßte auch die konservative Nea Dimokratia (ND), die nur knapp in die Opposition verwiesen wurde, die europäische Perspektive der Türkei. Der ND-Vorsitzende Kostas Karamanlis hatte im Wahlkampf lediglich bemängelt, die Regierung habe in Helsinki nicht genügend "Gegenleistungen" für ihre Zustimmung zum türkischen EU-Kandidatenstatus herausgeholt. Sowohl in der ND als auch in der regierenden Pasok hat man erkannt, dass die Stimmen der extremistischen "Türkenfresser" nicht zu gewinnen sind, ohne weit mehr moderate Wähler der Mitte zu verlieren.

Die neue Türkeipolitik ist damit weitgehend der parteipolitischen Konkurrenz enthoben. Dies heißt keineswegs, dass die erneut gewählte Regierung Simitis-Papandreou die Détente nun rasant beschleunigen wird. Sie geht davon aus, dass eine vorsichtige Annäherung stabilere Resultate bringen wird als ein euphorischer Aufbruch, der falsche Erwartungen produziert und von den Entspannungsfeinden umso leichter torpediert werden kann. Entscheidend ist vielmehr, eine realistische Perspektive und ein breites Fundament für die neue Politik zu gewinnen.

Das gilt für beide Länder. Es sind vor allem vier Faktoren, auf die sich eine realistische Perspektive stützen kann. Erstens konzentriert man sich seit Helsinki auf Themen, bei denen es viele gemeinsame Interessen und wenig Differenzen gibt. So unterzeichneten Papandreou und Cem eine Reihe überfälliger Abkommen über Umweltschutz, Tourismus, technologische Kooperation und ähnliche "zivile" Themen. Die Fixierung auf die "großen Probleme" hatte jahrzehntelang verhindert, dass diese naheliegendsten Felder nachbarschaftlicher Kooperation bestellt wurden.

Zweitens wird seit dem Ausbruch der seismischen Solidarität der Entspannungsprozess durch intensive Beziehungen auf der Ebene der Zivilgesellschaft untermauert. Die hat es auch schon früher gegeben, aber sie wurden von offizieller Seite nicht gefördert oder sogar behindert. In Athen galt in den Achtziger- und Neunzigerjahren die offizielle Linie, solange die großen politischen Probleme nicht gelöst seien, dienten solche Kontakte nur "der anderen Seite", Heute hat sich, von den Regierungen ermutigt, eine Kooperation zwischen etwa 130 griechischen und türkischen NGOs angebahnt. Noch vor einem Jahr wäre es etwa undenkbar gewesen, dass die Bürgermeister von Ost- und Westthrazien nachbarschaftliche Kontakte aufnehmen, mit dem Ziel, eine Euroregion zu beiden Seiten des Grenzflusses Evros/Meric zu gründen.

Drittens hat das Erdbeben die Atmosphäre in den Massenmedien deutlich verändert. Die Medien haben in der Vergangenheit maßgeblich zur nationalistisch verengten Wahrnehmung der anderen Seite beigetragen. Die Imia-Krise von 1996 wurde von türkischen Journalisten ausgelöst, die mit einem Hubschrauber eine unbewohnte griechische Insel kaperten. Aber auch die griechischen Massenmedien (vor allem die privaten Fernsehkanäle) hatten die Konflikte mit der Türkei immer wieder systematisch hochgespielt und angeheizt.5

Viertens entwickelt sich für die Détente eine stabile ökonomische Basis. Griechische und türkische Unternehmer gehören seit Jahren zu den treibenden Kräften der Entspannung, aber ihre Initiativen waren stets von der politischen Konjunktur abhängig. Seit Helsinki haben sich diese Kontakte vervielfacht und regional differenziert. Ein Beispiel: Seit März gibt es eine formelle Zusammenarbeit zwischen den Industrie- und Handelskammern von Thessaloniki und Bursa. Dabei nutzen die türkischen Unternehmer die nordgriechische Metropole als Sprungbrett in die gesamte Balkanregion, während griechische Banken und Unternehmen über den türkischen Markt - zusammen mit türkischen Partnern - einen Zugang zur Kaukasusregion und nach Mittelasien gewinnen wollen.

Die Schlüsselrolle des türkischen Militärs

ZWAR sehen griechische Firmen die Zeit für direkte Beteiligungen an türkischen Unternehmen noch nicht gekommen, aber Joint-Ventures entstehen bereits in mehreren Branchen. Eine enge Verflechtung erwartet man im Tourismus-Sektor, wo sich griechisch-türkische package-tours im Bereich der griechischen Inseln und der türkischen Ägäis-Küste und eine Kooperation im Jacht-Tourismus anbieten. Auch der bilaterale Touristenverkehr hat enorme Entwicklungschancen. Die Hoteliers von Rhodos haben kürzlich ihre Regierung aufgefordert, mehr Konsulate in der Türkei aufzumachen, um türkischen Touristen den Erwerb von Einreisevisa zu erleichtern. Welche Entwicklung, wenn man bedenkt, dass Mitte der Neunzigerjahre türkische Agenten auf Rhodos Waldbrände legten, um den griechischen Tourismus zu schädigen - und für ihre "patriotischen Taten" von der damaligen Ministerpräsidentin Tansu Ciller öffentlich belobigt wurden.

Diese Dynamik, die Menschen zusammenbringt und zugleich den beiderseitigen Interessen dient, zeigt einen Paradigma-Wechsel in der griechischen Außenpolitik an. Jahrzehntelang sah man in Athen - wie in Ankara - das bilaterale Verhältnis als ein Nullsummenspiel nach der Faustregel: Was der einen Seite nutzt, schadet der anderen, und umgekehrt. Heute sieht man die Entspannung als einen Prozess, der Vorleistungen erfordern und auch Rückschläge aushalten kann, weil man mit positiven Resultaten eher auf lange Sicht rechnet. Mit ihrer Entscheidung von Helsinki hat die Athener Regierung endlich Ernst gemacht mit ihrer jahrelangen Beteuerung, Griechenland sei von allen EU-Mitgliedern an einer "substantiellen" europäischen Perspektive der Türkei am stärksten interessiert.6 Eine Türkei, die sich auf den EU-Beitritt orientiert, ist für Griechenland automatisch ein besserer Nachbar. Sie müsste sich zum einen zur wirklichen Demokratie entwickeln, zum anderen die völkerrechtlichen Normen respektieren, die für die EU den acquis politique, also den gemeinsamen Bestand politischer Prinzipien ausmachen. Zu diesem Bestand gehört die Seerechtskonvention von 1982 (der die EU kollektiv beigetreten ist, wogegen die Türkei sie nicht unterzeichnet hat), wie auch der Grundsatz, völkerrechtliche Differenzen zwischen EU-Partnern über ein Schiedsverfahren beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag beizulegen. Die Verbindlichkeit dieser Prinzipien wurde auch im Türkei-Beschluss von Helsinki festgehalten, wo explizit die IGH-Schlichtung als Kriterium der EU-Reife hervorgehoben wird.7

Die türkische Reaktion auf diesen Passus von Helsinki zeigt, wie schwer sich Ankara mit den Anforderungen einer EU-Perspektive immer noch tut. Die Regierung Ecevit war erst nach einem interpretierenden Brief des EU-Ratspräsidenten Paavo Lipponen bereit, den Kandidatenstatus mit den in Helsinki formulierten "Auflagen" zu akzeptieren. Ecevit und auch Außenminister Cem wollten den Helsinki-Beschluss zunächst ebenso ablehnen wie ihre Koalitionspartner von der nationalistischen MHP. Die Annahme wurde letztlich durch den kleinsten Koalitionspartner, die konservative ANAP des ehemaligen Ministerpräsidenten Yilmaz erzwungen, die auch den Europaminister stellte. Diese kapriziöse Reaktion hat in Athen den Eindruck verstärkt, dass Helsinki zwar eine entscheidende Etappe, aber noch nicht die irreversible Wende im griechisch-türkischen Verhältnis war. Doch der EU-Kandidatenstatus der Türkei setzt neue Rahmenbedingungen für eine Politik, die - wie die Bonner Ostpolitik der Siebziger- und Achtzigerjahre - von der Erwartung eines "Wandels durch Annäherung" lebt. Das Credo dieser Politik lautet: Je verbindlicher sich die Türkei auf die EU orientiert, desto besser werden die Voraussetzungen für eine Lösung der griechisch-türkischen Differenzen, von der Ägäis bis zum Zypernkonflikt. Dabei sind wie bei der Bonner Ostpolitik in den Siebzigerjahren keine raschen Ergebnisse zu erwarten; man wird im Gegenteil Rückschläge hinzunehmen und Hindernisse zu überwinden haben.

Aus Athener Sicht müssen dabei die Eigenheiten des politischen Regimes in Ankara einkalkuliert werden. In einem internen Memorandum gab ein Simitis-Berater anlässlich des Cem-Besuches in Athen zu bedenken: "Es ist allgemein bekannt, wie stark die politische Kontrolle ist, die in der Türkei die bewaffneten Streitkräfte ausüben. Es gibt erhebliche Zweifel hinsichtlich der Frage, wie weit der türkische Außenminister selbständig agieren kann und ob Vereinbarungen nicht von den Militärs unterminiert werden, wie so häufig in der Vergangenheit."8 Zwar stellt sich die kemalistische Armee seit Gründung der türkischen Republik als die Kraft dar, die das Land "in den Westen" führen will. Aber das bedeutet keineswegs eine automatische und vorbehaltlose Zustimmung zu einer "europäischen Perspektive", die der politisch-militärischen Klasse mit den "Kopenhagener Kriterien" eine substantielle Demokratisierungsagenda vorgibt.

Die schrittweise Realisierung dieser Agenda würde letzten Endes die Machtbasis der Armee direkt in Frage stellen. Das größte politische Hindernis für den türkischen EU-Beitritt ist aus europäischer Sicht die "ständige Einmischung des Militärs und der Sicherheitsorgane in Lebensbereiche, in die einzugreifen für jedes demokratische Land unverstellbar wäre."9 EU-Kommission und Europaparlament beklagen gegenüber der Türkei immer wieder, dass das Prinzip der "Verantwortlichkeit des Militärs gegenüber den politischen Autoritäten" nicht erfüllt sei.10 Deshalb ist zu erwarten, dass die militärische Klasse - trotz ihrer "westlichen" Bekenntnisse - den Prozess der Übernahme von EU-Standards zumindest zu verzögern suchen wird. Dieselbe Unsicherheit ist im zivilen kemalistischen Establishment zu beobachten. Manche Politiker und Diplomaten waren nach Aussagen türkischer Beobachter über den positiven Beschluss von Helsinki regelrecht "erschrocken", da sie sich plötzlich mit anspruchsvollen Beitrittsbedingungen konfrontiert sahen.

Uneingeschränkt begrüßten den EU-Beschluss nur die demokratischen Kräfte der Zivilgesellschaft, die seit dem Erdbeben an Einfluss gewonnen haben. Sie können seit Helsinki die politische Klasse auffordern, ihrem theoretischen Europa-Bekenntnis die nötigen Taten folgen zu lassen. Zwar darf man die Möglichkeiten dieser Kräfte nicht überschätzen. Aber der Autoritätsverlust, den die politische Klasse durch Skandale und Misswirtschaft hinnehmen musste11, hat ihren Spielraum ebenso erweitert wie die Schwächen des "starken Staates", die nach dem Erdbeben offenbar wurden, also gerade zu einem Zeitpunkt, als die Menschen auf einen starken Staat verzweifelt angewiesen waren.

Wie rasch sich der demokratische Spielraum in der Türkei erweitern kann, ist allerdings ziemlich offen. Eine Einschätzung der türkischen Politik fällt vor allem deshalb so schwer, weil das militärische Machtzentrum eine "Blackbox" ist, deren Willensbildung - als Resultante unterschiedlicher Strömungen - fast undurchschaubar ist. Skeptische türkische Stimmen gehen davon aus, dass die EU-Perspektive für die politischen Köpfe des Mililtärs eine eher opportunistische als prinzipielle Option ist. Sie unterstellen beim Generalstab als entscheidendes Motiv das Kalkül, dass einem offiziellen EU-Kandidaten die Beteiligung an einer europäischen Militär- und Sicherheitspolitik nicht verweigert werden könne.

Diese militärisch-strategische Dimension einer "europäischen Identität" der Türkei hat auch für die USA die höchste Priorität. Auch aus diesem Grund hat Washington vor dem Helsinki-Gipfel die EU-Staaten ermahnt, ihre negative Türkei-Entscheidung vom Luxemburger Gipfel 1997 zu revidieren. Nach Helsinki drängt die Clinton-Regierung in Athen und Ankara auf weitere Annäherungsschritte, was sie nicht daran hindert, in beiden Ländern eine aggressive Verkaufsstrategie für US-Rüstungsgüter zu verfolgen. Dabei begünstigen die Vereinigten Staaten angesichts ihrer strategischen Prioritäten (das "Big Game" um die Energieressourcen der Kaspischen Region und die russische Hegemonie im Kaukasus) zwar immer noch die regionale Hegemonialmacht Türkei. Aber seit Helsinki muss auch Washington anerkennen, dass für die Aufnahme in die "europäische Familie" die politischen EU-Standards gelten, dass Ankaras Generäle also keinen "strategischen Bonus" erwarten dürfen, der dem Nato-Partner Türkei seit Jahrzehnten zugestanden wurde.

Das Tempo der Annäherung an die EU-Standards wird in der Türkei maßgeblich - aber nicht mehr ausschließlich - vom militärisch-politischen Machtkomplex bestimmt. Dessen ideologische Botschaft wurde durch das Erdbeben noch keinesfalls zerbrochen, aber in einem zentralen Punkt angeknackst: Die obsessive Mahnung, die Türkei sei von lauter Feinden umgeben ("Freund des Türken ist nur der Türke") hat einen guten Teil ihrer Wirkung eingebüßt. Hinzu kommen die materiellen Bebenfolgen, die auf den Staatshaushalt durchschlagen und zweifellos das ambitionierte 60-Milliarden-Dollar-Rüstungsprogramm beeinträchtigen werden, das die Armee für die nächsten fünfundzwanzig Jahre aufgestellt hat.12

Auch auf griechischer Seite gibt es ökonomische Zwänge. Die Regierung Simitis verspricht sich von einer Détente in der Ägäis für den Staatshaushalt eine veritable Entspannungsdividende. Die Zugehörigkeit zur Wirtschaft- und Währungsunion (WWU) ab 2001 erfordert eine dauerhafte Beschränkung der Staatsausgaben, die mit einem griechisch-türkischen Rüstungswettlauf inkompatibel ist. Diese Priorität und die Erfahrung der Balkankriege vor der eigenen Haustür haben die politische Elite Griechenlands davon überzeugt, dass mit dem alten Populismus der Ära des Andreas Papandreou die Zukunft nicht gewonnen werden kann. Über die nächsten Schritte in der Türkeipolitik, und speziell über "vertrauensbildende Maßnahmen" zwischen den Streitkräften beider Länder, gibt es allerdings deutliche Differenzen zwischen Außen- und Verteidigungsministerium, wobei Verteidigungsminister Tsochatsopoulos versucht, sein Mitspracherecht in militärischen Angelegenheiten im Sinne einer Nebenaußenpolitik zu praktizieren.13

Das Problem für die Regierung Simitis wird in absehbarer Zeit darin bestehen, keine falsche Ungeduld zuzulassen. Das gilt vor allem für die Zypernfrage, die als entscheidender Testfall für die griechisch-türkische Entspannung gilt. Über Konzessionen zugunsten einer Zypern-Lösung (im Sinne einer bizonalen Föderation) wird in Ankara aber mit Sicherheit im Generalstab entschieden. Hier ist in absehbarer Zeit kein Durchbruch zu erwarten, auch wenn in der türkischen Presse das Thema Zypern heute weniger dogmatisch erörtert wird als noch vor einem Jahr.

Was die Ägäis-Problematik betrifft, kommen aus Ankara widersprüchliche Signale. Einerseits entwirft ein Memorandum des ehemaligen Marineoberbefehlshabers Admiral a. D. Erkaya an Regierungschef Ecevit erstmals ein Entspannungsangebot für die Ägäis: Das Erkaya-Memorandum enthält den konstruktiven Vorschlag, die türkische Ägäis-Armee aufzulösen, die von Griechenland als militärische Bedrohung ihrer östlichen Inseln wahrgenommen wird. Mit einem solchen Schritt könnte in der Tat eine Entmilitarisierung der gesamten Ägäis-Region in Gang kommen. Auch was die Frage der Territorialgewässer betrifft, steckt Erkaya die türkischen Forderungen zurück: Athen müsse seinen völkerrechtlichen Anspruch auf eine 12-Meilen-Zone nicht aufgeben, sondern nur darauf verzichten, diesen Anspruch durchzusetzen. Diese Idee würde in Athen offene Türen einrennen. Andererseits hat sich Verteidigungsminister Cakmakoglu von Erkayas Ideen distanziert und beklagt, im Verhältnis zu Athen sei "keinerlei Fortschritt" zu verzeichnen. Außenminister Cem wiederum erklärte, die Beziehungen zu Griechenland seien besser als je zuvor.14

Ein entscheidender Faktor für die griechisch-türkischen Beziehungen entzieht sich allerdings der Kontrolle beider Länder. Das Angebot der EU an die Türkei wird die Politik Ankaras langfristig nur bestimmen können, wenn es ernst gemeint ist. Wenn sich herausstellen sollte, dass Helsinki nur ein taktisches Manöver war, könnte ein Bumerangeffekt einsetzen. Wenn die EU die Türkei doch nicht in ihren Reihen haben will, würde das nicht nur die demokratischen Kräfte in der Türkei zurückwerfen, es könnte auch die griechisch-türkische Entspannung gefährden.

Fußnoten:

1 Der Bevölkerungsaustausch betraf ca. eine Million griechische Bewohner Kleinasiens und ca. 400 000 türkische Bewohner Griechenlands. Die nationale Identität war religiös definiert, es wurden also auch turkophone orthodoxe Christen aus Anatolien und gräcophone Muslime aus Kreta erfasst.

2 Siehe Niels Kadritzke, "Gesucht: Eine Schiedsinstanz auf der Höhe des Konflikts", Le Monde diplomatique, September 1996.

3 Kranidiotis ist im September 1999 bei einem tragischen Flugzeugunfall über Rumänien ums Leben gekommen.

4 Siehe etwa Grigorios Demestichas (Admiral a. D. und Präsident des Griechischen Instituts für Strategische Studien), "Greek Security and Defense Policy in the Eastern Mediterrenean", Mediterranean Quarterly, Vol. 8, No. 2 (Spring 1997), S. 215-227.

5 Siehe die Beilage der Elevtherotypia (Athen) vom 5. Februar 2000.

6 So Außenminister Papandreou gegenüber der tageszeitung vom 1. November 1999.

7 Wortlaut in Jürgen Reuter, "Griechisch-türkische Beziehungen vor und nach dem EU-Gipfel von Helsinki", Südosteuropa, 2000/Nr. 1, S. 54 f.

8 Zitiert nach Ependytis vom 5./6. Februar 2000.

9 James Pettifer, "The Turkish Labyrinth, Ataturk and the New Islam", London (Penguin) 1998, S.62.

10 Siehe "Regular Report from the Commission on Progress towards Accession, Turkey", www.europa.eu.int/comm/enlargement/turkey/rep_10_99/index.htm.

11 Vgl. Wendy Kristianasen, "Die doppelte Identität der Türkei", Le Monde diplomatique, Februar 1999, sowie The Economist, 26. Februar und 20. Mai 2000.

12 Experten gehen von einem Kürzungsbedarf um die Hälfte aus. Siehe Janes Defense Weekly, 22. September 1999, S. 28-33, und 6. Oktober 1999, S. 22.

13 Siehe Elevtherotypia vom 23. Mai 2000, To Vima vom 4. Juni 2000.

14 Siehe Turkish Daily News vom 14. Mai 2000; Elevtherotypia vom 23. und 29. Mai 2000; Kathimerini (engl. Ausgabe) vom 3./4. Juni 2000.