Neue Zürcher Zeitung (CH), 14.06.2000 Nr.136 5

Keine Nato-Ermittlungen des Uno-Tribunals

Die Chefanklägerin Del Ponte legt ihren Schlussbericht vor

Das Uno-Tribunal für das frühere Jugoslawien in Den Haag macht in der Regel keine Angaben zu Ermittlungen, die nicht in eine Anklage münden. Im Fall der Nato-Bombardierungen vom vergangenen Jahr in Kosovo und anderen Gebieten der Bundesrepublik Jugoslawien sah sich die Anklage als Folge der öffentlich geführten Debatte nun gezwungen, entsprechend detailliert zu informieren.

vau. Amsterdam, 13. Juni

Wie bereits Anfang Monat vor dem Uno- Sicherheitsrat in New York angekündigt, sieht das Uno-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag von jeglichen Ermittlungen gegen die Nato im Zusammenhang mit den Bombardierungen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien ab. Die Chefanklägerin des Tribunals, Carla Del Ponte, hat am Dienstag einen entsprechenden Schlussbericht vorgelegt. Die Nordatlantische Allianz habe zwar Fehler gemacht; es bestehe jedoch keine Grundlage, um Ermittlungen zu eröffnen, welche als Folge der eingebrachten Anschuldigungen gerechtfertigt wären. Die Anklage hob hervor, während der Nato-Kampagne seien keine Zivilisten vorsätzlich getroffen worden. Sie untersuchte zahlreiche Vorkommnisse, die sich zwischen März und Juni vergangenen Jahres während der Nato- Angriffe zugetragen hatten. Dabei wurden insbesondere die Angriffe auf die chinesische Botschaft und auf das serbische Medienzentrum in Belgrad sowie Attacken auf zivile Konvois unter die Lupe genommen. Da das Tribunal mit einer Jurisdiktion für sämtliche Kriegsverbrechen im früheren Jugoslawien ausgestattet sei, hätten es sowohl die vorangegangene als auch die jetzige Anklagebehörde auch im Lichte ihrer Unabhängigkeit als ihre Pflicht angesehen, den Anschuldigungen gegenüber der Nato nachzugehen.

Jurisdiktion über alle Kriegsverbrechen Die Chefanklägerin Del Ponte war kurz nach ihrem Amtsantritt in Den Haag primär von amerikanischer Seite unter Beschuss geraten, weil sie sich entschlossen hatte, die Anschuldigungen zu verifizieren. Sie reagierte auf die Konsternation jenseits des Atlantiks mit dem Hinweis, gegen die Nato würden keine formellen Ermittlungen geführt; das Haager Tribunal sammle lediglich Informationen von verschiedener Seite, die nach einer Untersuchung der Nato-Kampagne drängten. Anzumerken ist, dass das 1993 vom Uno- Sicherheitsrat eingerichtete Uno-Tribunal für das frühere Jugoslawien nicht mit der Kompetenz ausgestattet ist, einzelne Regierungen oder internationale Organisationen anzuklagen; das Mandat beschränkt sich auf die Möglichkeit von juristischen Ermittlungen gegen Einzelpersonen. Im Mai vergangenen Jahres hatte Del Pontes Vorgängerin, Louise Arbour, bereits eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die der Frage der Anschuldigungen gegenüber der Nato nachging.

Die gesammelten Beschuldigungen und Informationen stammten primär aus der Bundesrepublik Jugoslawien und von einer russischen Parlamentskommission. Das Team, dem Rechts- und Militärexperten angehören, setzte seine Arbeit unter der Leitung von Del Ponte fort und überprüfte die bereits gemachten Angaben des Militärbündnisses und forderte, wo als nötig erachtet, zusätzliches Material und Erklärungen an. So war es für das Tribunal möglich, die vorgebrachten Anschuldigungen in jedem einzelnen Fall zu analysieren. Dabei wurde primär auf die Kompatibilität mit der internationalen Gesetzgebung geachtet, besonders was die gesetzlichen Erfordernisse und Bedingungen eines modernen Luftkrieges betraf. Die Arbeitsgruppe hält allerdings in ihren Schlussfolgerungen fest, detaillierte Fragen seien von der Nato in der Regel in einer allgemeinen Art beantwortet worden.

Russland kritisiert Russland hatte die Entscheidung des Tribunals, keine Ermittlungen gegen die Nato zu führen, bereits vergangene Woche scharf kritisiert. Laut dem russischen Aussenministerium handelt es sich um einen weiteren Beweis für die politische Voreingenommenheit des Haager Tribunals. Ohne die Luftangriffe grundsätzlich in Frage zu stellen, hatte jüngst auch Amnesty International die Nato für Menschenrechtsverletzungen während des Kosovo-Krieges kritisiert.