Neue Zürcher Zeitung (CH), 13. Juni 2000

Wachsende soziale Gegensätze in der Türkei

Ermahnungen der Weltbank an die Regierung

Der Präsident der Weltbank hat während eines kurzen Besuchs in Ankara der Regierung eine gerechtere Einkommensverteilung als Grundlage für wirtschaftlichen Erfolg empfohlen. Der Graben zwischen Arm und Reich ist in der Türkei in den letzten zwei Jahrzehnten tiefer geworden. Die soziale Schichtung spiegelt Verhältnisse wie in einem Drittweltland.

it. Istanbul, im Juni

Die Türkei hat gemäss einem vor kurzem veröffentlichten Bericht der Weltbank im riesigen Raum zwischen Island und China, genannt «Eurasien», die ungerechteste Einkommensverteilung. In einer Liste der Länder mit der grössten Kluft zwischen Arm und Reich rangiert das Land nach Brasilien, Südafrika, Chile und Mexiko weltweit an fünfter Stelle. Auch die von türkischen Institutionen veröffentlichten Zahlen sind ernüchternd: Laut dem Institut für Statistik verdienen in der Türkei die reichsten 20% der Bevölkerung 54,9% des Nationaleinkommens. Die ärmsten 20% beanspruchen gerade 2,5% des Einkommens. 76,7% aller Ersparnisse sind gemäss Angaben des Vereins türkischer Banken (TBB) im Besitz von 2,9% der Kunden.

Soziale Verwerfungslinien Die Kluft zwischen Reich und Arm wurde in den letzten zwei Jahrzehnten immer grösser, was in Istanbul genau zu beobachten war. Mit dem Aufruf «Werdet reich. Wie, interessiert mich nicht» hatte Anfang der achtziger Jahre der ehemalige Ministerpräsident Turgut Özal versucht, die wirtschaftliche Elite seines Landes für die freie Marktwirtschaft zu gewinnen. An den grünen Ufern der Meerenge Bosporus, welche Istanbul in einen europäischen und einen asiatischen Stadtteil trennt, sind seither Tausende von Luxusvillen entstanden. Istanbul generiert heute 27,5% des Gesamteinkommens der Türkei. 64% davon werden von 20% der Istanbuler akkumuliert.

Die Kehrseite dieser Entwicklung ist in den armen Aussenvierteln der Grossstadt zu sehen. Der Durchschnittslohn eines Arbeiters beträgt laut der Gewerkschaft Petrol Is 160 Mio. türkische Lira netto. Das entspricht rund 261 US-$. Im Jahr 1996 war der Durchschnittslohn mit umgerechnet 540 $ noch doppelt so hoch gewesen. Der Minimallohn, faktisch der Grundlohn für ungelernte Arbeiter, erreicht 80,5 Mio. Lir. (131 $). Im Vergleich damit schätzt Petrol Is die Ausgaben für eine vierköpfige Familie allein für Nahrung auf 440 Mio. Lir., auf das Fünffache also des Minimallohns. Die bis 1980 relativ breite Mittelschicht, vor allem Staatsangestellte, verlor im Laufe der letzten Jahrzehnte ständig an Kaufkraft und hat ihren Lebensstil mehr und mehr den Bedingungen der unteren Schichten angepasst. Im Gürtel der armen Aussenviertel Istanbuls, wo über 60% der Bevölkerung wohnen, hat nach 1980 der politische Islam, der soziale Gerechtigkeit verhiess, massiv an Einfluss gewonnen. Zu Beginn der neunziger Jahre konnte diese Bewegung gar zu einer der grössten Herausforderungen für den Staat heranwachsen.

Die Kluft zwischen Arm und Reich ist in der Türkei auch geographisch von einem deutlichen Gefälle gezeichnet. Gemäss dem Institut für Statistik haben im Jahr 1998 die zehn reichsten Provinzen der Türkei 57,3% des Bruttosozialprodukts erzeugt, während die zehn ärmsten einen Beitrag von lediglich 0,1% lieferten. Dies spiegelt sich im Pro-Kopf-Einkommen: Ein Bewohner der reichen Provinz Kocaeli verdiente mit 7500 $ rund neunmal so viel wie der Bürger der östlichen, kurdischen Provinz Agri, der es im Jahr auf ein durchschnittliches Einkommen von 827 $ brachte. Während die zehn reichsten Provinzen im Westen des Landes liegen, befinden sich die ärmsten zehn ausnahmslos im mehrheitlich von Kurden bewohnten Osten. Die markanten sozialen Unterschiede haben den Krieg, der 1984 zwischen türkischen Sicherheitskräften und der kurdischen Guerilla ausbrach und der die Republik Tausende von Menschenleben und Dutzende Milliarden Dollar gekostet hat, noch zusätzlich angefacht.

Nun wird Alarm geschlagen. Laut Professor Salih Yildirim sind 10,5 Mio. Bürger arbeitslos. Ein Drittel der Bevölkerung lebe hart an der Armutsgrenze, während ein weiterer Viertel unterhalb der Armutsgrenze dahinvegetiere.

Widersprüchliche Warnungen Nach einem Besuch in Ankara hat der Türkei- Beauftragte des Internationalen Währungsfonds (IMF), Carlo Cottarelli, unlängst die Regierung Ecevit davor gewarnt, Abweichungen im Programm zur Bekämpfung der galoppierenden Inflation hinzunehmen. Andernfalls laufe sie Gefahr, ihr Ziel bei der Inflationsbekämpfung zu verfehlen. Die Regierung hatte sich zum Ziel gesetzt, die Jahresteuerungsrate, welche sich nach 1985 stabil zwischen 60% und 100% bewegt hatte, noch in diesem Jahr auf 25% zu reduzieren. In diesem Rahmen sollten die Löhne nur um 25% erhöht werden. Die Inflation wird aber voraussichtlich auch im Jahr 2000 nicht unterhalb der 40%-Marke liegen: Mit der Forderung nach einer Anpassung der Löhne an die Teuerung haben die Gewerkschaften kämpferische Aktionen angekündigt.

Der Präsident der Weltbank, James Wolfensohn, hat Ende Mai die Regierung Ecevit dafür gelobt, dass sie ein in Zusammenarbeit mit dem IMF ausgearbeitetes strenges Wirtschaftsprogramm konsequent verfolge. Im Gegensatz zum IMF-Vertreter mahnte Wolfensohn Ankara allerdings zu einer gerechteren Einkommensverteilung: Die Wirtschaftspolitik eines Landes könne - so Wolfensohn - mit einer so ungerechten Einkommensverteilung «nie erfolgreich sein».