junge Welt, 10.06.2000

Kommentar: Langer Atem

Ein Jahr nach Ende des NATO-Krieges gegen Jugoslawien

Das hätte sich der General seinerzeit nicht träumen lassen. Die Überlebenden kämpfen seit mehr als einem Vierteljahrhundert darum, irgendwann Gerechtigkeit für erlittenes Unrecht, für Folter, Mord und Verschwindenlassen ihrer Angehörigen während der chilenischen Diktatur zu erfahren. Es war ein langer Weg. Öffentlicher Druck und eine Änderung im innen- wie außenpolitischen Klima nach gut zweieinhalb Jahrzehnten trugen das ihre dazu bei, den Opfern endlich Gehör zu verschaffen. Aufrecht und selbstbewußt ging General Augusto Pinochet die vergangenen Jahre durchs Leben. Als Präsident und später Senator auf Lebenszeit wähnte sich der Diktator vor Strafverfolgung sicher. Mit der Aufhebung seiner Immunität steht dem Putschisten am Ende nun doch noch ein Prozeß bevor.

Die internationalen Tribunale über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien sind ein Anfang, Verbrechen der westlichen Militärallianz aufzuarbeiten und Verantwortliche zu benennen. »Racak-Massaker«, »Hufeisenplan«, »Grdelica-Video« und vieles mehr - mit jedem Tag seit Kriegsende vor einem Jahr platzte eine neue Lüge der heuchelnden Menschenrechtskämpfer. Freilich ohne unmittelbare Konsequenz, die »Volkstribunale« arbeiten ohne rechtliche Sanktionsfähigkeit. Sie sind mehr der Anfang von Bewußtseinsbildung in einer komplett desinformierten Bevölkerung. Nach Berlin und New York braucht die Friedensbasis langen Atem. Joseph Fischer und Rudolf Scharping, George Robertson und Tony Blair, William Clinton und Madeleine Albright, ihre Militärs und Strategen, sie alle setzten sich im antijugoslawischen Krieg ins Recht und damit über genau dieses hinweg. Die Chefanklägerin des Haager Jugoslawientribunals, Carla del Ponte, gab den NATO- Völkerrechtsnihilisten vor einer Woche erst den Segen.

Mord und Totschlag, Massenvertreibung, Vergewaltigung und Entführung - trotz der bitteren Realität im Protektorat der NATO ging es am Donnerstag auch im Deutschen Bundestag auffällig ruhig zu. Ohne große Debatte und Kontroverse verlängerten die Abgeordneten die Beteiligung mehrerer tausend Bundeswehrsoldaten an der KFOR-Mission im Kosovo. Über dem bis heute andauernden Rechtsbruch lag an diesem Nachmittag einmal mehr der große Mantel des Schweigens. In aller Ruhe konnte mithin Außenminister Fischer am Abend in den Straßen Berlin-Moabits wieder joggen gehen.

Brigadegeneral Stephen Saunders ereilte indes die Strafe für »den Mord an Tausenden Zivilisten«. Der griechische »17. November« beschuldigte den britischen Militärattaché in Athen, an der »Planung der Bombardements gegen Jugoslawien« beteiligt gewesen zu sein. Am Donnerstag vollstreckte die Untergrundgruppe ihr selbstgefälltes Urteil und erschoß den bis dato Unbekannten in seinem Dienstwagen.

Nichts ist eben sicher und für die Ewigkeit. Wer schließlich weiß heute, was in 25 Jahre ist und bis dahin noch alles passiert.

Rüdiger Göbel