junge Welt, 10.06.2000 Feuilleton

Frieden durch Intervention?

Widersprüchliches Gutachten 2000 der deutschen Friedensforscher.

Von Rainer Rupp

*** Ulrich Ratsch/Reinhard Mutz/Bruno Schoch (Hg.): Friedensgutachten 2000. LIT-Verlag, Münster/ Hamburg/London 2000, 380 Seiten, DM 24,80

Wegen der Krise der internationalen Rüstungskontrolle und der US-Pläne für ein Raketenabwehrsystem (National Missile Defence - NMD) sehen die fünf führenden deutschen Friedensforschungsinstitute die Gefahr eines neuen Wettrüstens. Bei der Vorstellung des Friedensgutachtens 2000 forderten sie die Bundesregierung am Dienstag in Berlin auf, den USA gegenzusteuern: Man solle mit Washington zwar im Gespräch bleiben, sich aber nicht zum »Juniorpartner« beim Aufbau des amerikanischen Raketenschildes machen lassen.

Ist die internationale Analyse der Institute klar und deutlich, so erscheint die spezifisch deutsche Friedensproblematik im gemeinsamen Gutachten eher verworren, was auf die unterschiedlichen Positionen der einzelnen Friedensforschungsinstitute gegenüber der Bundeswehr zurückzuführen sein dürfte. Einerseits sagte der Hamburger Friedensforscher Reinhard Mutz, daß die eng gefaßte Landesverteidigung »kaum noch eine Rolle« spiele, weshalb die Wehrpflicht nicht mehr zu rechtfertigen und eine Präzisierung der Wehrverfassung im Grundgesetz angebracht sei. Andererseits begrüßt das Gutachten zumindest tendenziell die Schlußfolgerungen der Weizsäcker-Kommission, die einen Umbau und die Verkleinerung der Bundeswehr vorgeschlagen hatte, wobei eine kleine, hochmobile professionelle Truppe für sogenannte Kriseneinsätze im Kosovo-Stil vage definierte europäische Interessen außerhalb der EU-Grenzen »verteidigen« soll. Vor diesem Hintergrund kommen die Friedensforscher zu dem erstaunlichen Ergebnis, daß die Bundeswehr in der Zukunft nur noch eine Chance hat, »wenn ihr Auftrag künftig Kriseneinsätze außerhalb des Bündnisses ausdrücklich einschließt«.

Vielleicht ist es zu naiv, von Friedensforschern der etablierten Institute zu erwarten, daß sie die Existenz der Bundeswehr nach deren Beteiligung am NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien grundsätzlich in Frage stellen. Bescheiden geworden darf man sich statt dessen über die Meldung freuen, daß die Friedensforscher der Ankündigung des EU-Gipfels in Helsinki, eine europäische Interventionsstreitmacht mit 50 000 bis 60 000 Soldaten aufzustellen, wenigstens skeptisch gegenüberstehen. Wenn dies der Beginn einer Militärmacht neben der NATO sein solle, dann »dient sie nicht der Wahrung des Friedens«, wird im Gutachten messerscharf geschlossen.

Sollte die schnelle EU-Eingreiftruppe mit den deutschen Krisenreaktionskräften aber ein Instrument kollektiver Sicherheit im Rahmen von UNO oder OSZE werden, dann sei sie - so das Gutachten - zu begrüßen. Was aber soll das heißen? Etwa, daß die Friedensforscher einer EU- Interventionstruppe das Wort reden, die in Zukunft unter UNO- oder OSZE-Flagge außerhalb der EU den »Frieden« mit militärischer Gewalt erkämpft? Scheinbar ja, denn um Aufträge der Truppe jenseits der Landesverteidigung abzusichern, sollte laut Empfehlung des Gutachtens das Grundgesetz geändert werden. Wie eine solche Änderung aussehen wird, ist nicht schwer zu erraten. Dort, wo es heißt, daß die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland militärisch verteidigt werden müssen, wird das Wort »Grenzen« einfach durch »Interessen« ersetzt. Den kleinen Unterschied mit den weltweiten Folgen wird kaum jemand bemerken - bis es zu spät ist und die Zinksärge heimkommen. Und Krisen gibt es genug. Für 1999 registrierten die Friedensforscher 34 Gewaltkonflikte, davon mit dem Jugoslawien- und dem Tschetschenien-Krieg zwei in Europa.

Von besonderer Bedeutung sei jedoch die Krise des Systems der weltweiten Rüstungskontrolle, die »in erster Linie ein amerikanisches Phänomen sei«, so der Heidelberger Friedensforscher Ulrich Ratsch. Der US-Senat habe das START-II-Abkommen immer noch nicht vollständig ratifiziert, und Amerika stelle zugunsten seines geplanten Raketenabwehrsystems den Eckpunkt der nuklearen Rüstungskontrolle, den ABM-Vertrag, in Frage. Hinzu komme die lange Stagnation der Genfer Abrüstungskonferenz, der Streit um den Atomwaffensperrvertrag, die Verzögerung der Chemie- und Biowaffenkontrolle sowie der Rüstungswettlauf der neuen Atommächte Indien und Pakistan. Nur aus Rußland seien jüngst positive Signale gekommen, als die Duma START II und das Atomteststopp-Abkommen ratifiziert habe. »Je tiefer die Risse in den bestehenden Rüstungskontrollregimen werden, desto größer wird die Zahl von Staaten, die ihre Sicherheit eher mit als ohne ABC-Waffen gewährleisten«, so Ratsch.

Das Gutachten wird herausgegeben von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg, dem Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik Hamburg, der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt, dem Bonn International Center for Conversion und dem Institut für Entwicklung und Frieden in Duisburg.

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