Wochenzeitung WoZ (CH), 7.6.2000

Vorboten einer neuen Epoche

Ömer Erzeren, Istanbul

Die Türkei, reif für Euro und Fussball-EM?

Vom Glanz des türkischen Vereinsfussballs und von ein paar Schatten, die die Aussichten auf die EU-Mitgliedschaft trüben.

Europa, Europa höre unsere Stimme» ist der neu entdeckte Slogan der türkischen Fussballfans. Mit diesem Schlachtruf werden sie auch in die Europameisterschaften in Belgien und Holland ziehen, die am 10. Juni in Brüssel angepfiffen werden. Nach dem Uefa-Cup-Sieg von Galatasaray Istanbul gegen Arsenal London in Kopenhagen ist das Selbstvertrauen gestärkt. Die europäischen Medien jubeln über den «technisch hochklassigen Fussball Galatasarays», und der FC Bayern versucht sogleich, Starstürmer Hakan Sükür abzuwerben. «Die Türken sind endgültig in Europa angekommen», titelte die europäische Presse. Was sich in der Türkei nach dem 4:1-Sieg Galatasaray Istanbuls über Arsenal London im Elfmeterschiessen abspielte, lässt sich kaum mit der Begeisterung für eine spielerisch gute Elf erklären. Über Tage hinweg waren die rot-gelben Flaggen von Galatasaray ausverkauft, so dass die türkische Textilbranche einfach die rot-gelbe Fahne Makedoniens an die Fangemeinde lieferte. Als Fatih Terim, der inzwischen zum AC Fiorentina gewechselte Chef-Coach Galatasarays, im Parlament in Ankara für seine Verdienste geehrt wurde, «bebte» laut Tageszeitung «Milliyet» gar die Hauptstadt. Terim hatte den Uefa-Pokal gleich mit ins Parlament gebracht, damit ihn der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit dort einmal umarmen konnte. «Galatasaray ist der Stolz der Nation», erklärte auch der vom Parlament gewählte neue Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer und zeichnete die Uefa-Cup-Sieger umgehend mit dem höchsten staatlichen Verdienstorden aus. Offen ist derzeit noch, ob der finanziell angeschlagene Club mit einer Bezuschussung aus der Staatskasse rechnen kann. 20 bis 50 Millionen US-Dollar sind im Gespräch. Eine lächerliche Summe, so heisst es. «Wir haben wegen fünf maroder Banken fünf Milliarden ausgegeben. Galatasaray hat das Geld wenigstens verdient», sagt der stellvertetende Vorsitzende der Mutterlandspartei, Bülent Akarcali. Die Mutterlandspartei ist in die Regierungskoalition eingebunden. Und auch Osman Pepe von der islamistischen Opposition meint: «25 Millionen sind keine wichtige Summe.» Aus dem Staatsfonds zur Promotion der Türkei - so glauben viele - könne das Geld bereitgestellt werden. Galatasaray ist ein mit 75 Millionen US-Dollar hoch verschuldeter Verein. Sollte es zu Sondergesetz und Geldgeschenk kommen, würde der Staat unmittelbar für einen Verein Partei ergreifen. Andere Clubs, die in der Vergangenheit besser gewirtschaftet haben, stünden dumm da. Aus ihren Reihen regt sich nun Protest. Doch die Galatasaray-Manager vertrauen auf die Erfahrung anderer Bankrotteure. Ist man gross und stark, besteht durchaus eine Chance, dass einem der Staat unter die Arme greift. Ist Galatasaray nicht das hoffnungsvolle Symbol der gesamten türkischen Nation? Nimmt nicht Mustafa Denizli, Coach der türkischen Nationalelf, gleich neun Spieler von Galatasaray mit zu den Europameisterschaften? Leider müssen Galatasaray-Stars wie die Rumänen Hagi und Popescu und der brasilianische Torwart Taffarel im türkischen Aufgebot fehlen.

«Seit meiner Geburt»
Noch vor wenigen Jahren bot die Türkei das Bild einer zerrissenen Gesellschaft. Die Renaissance des kurdischen Nationalismus, der blutige Bürgerkrieg in den kurdischen Regionen sowie der Aufstieg des politischen Islam in Gestalt der Wohlfahrtspartei unter Necmettin Erbakan trugen wesentlich zu diesem Bild bei. Die Kampflinien zwischen Kurden und Türken, Theokraten und Laizisten waren gezogen, und der Staat intervenierte sowohl im gegebenen Rechtsrahmen (politische Justiz, polizeiliche Repression) als auch mit illegalen Mitteln (Praxis der Todesschwadronen, Ausserkraftsetzung der Bürgerrechte ganzer Bevölkerungsgruppen). Ende der neunziger Jahre gelang es so, die vom Regime als Todfeinde betrachteten politischen Bewegungen zu zerschlagen. Erbakans Wohlfahrtspartei (Refah) wurde vom Verfassungsgericht verboten und Erbakan selbst mit einem politischem Betätigungsverbot bis 2002 belegt. Die Nachfolgepartei der Refah, die Partei der Tugend (Fazilet), zeigt Kooperationsbereitschaft mit dem türkischen Staat. Starke Kräfte innerhalb der Fazilet drängen darauf, religiöse Inhalte aus dem politischen Tagesgeschäft zu verbannen, um eine ähnliche Rolle wie die Christ-Demokratien in Europa einzunehmen. Der Generalsekretär der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, letztes Jahr von Kenia in die Türkei entführt und dort zum Tode verurteilt, propagiert von seiner Zelle aus die Aussöhnung mit dem türkischen Staat. Eine Neuorientierung kurdischer Politik, der die Kampfverbände der PKK widerspruchslos Folge leisteten. Was die türkischen Militärs allerdings nach wie vor nicht daran hindert, den demobilisierten PKK-Einheiten bis tief in irakisches Terrain nachzusetzen. Aber wer könnte die Integration der Herde verirrter Schafe besser bewerkstelligen als eine Fussballelf? Ohne die Identität abzustreifen, kann man sich in die Gesamtnation einreihen. Als Galatasaray in der letzten Saison im kurdischen Diyarbakir gegen Antalyaspor spielte, fand dort ein grosses kurdisches Fest für Cim-Bom - so nennen die Anhänger Galatasarays liebevoll ihre Elf - statt. Niemand konnte den KurdInnen verbieten, ihre Bürgersteige mit den Farben Galatasarays rot-gelb anzustreichen. Der Nebeneffekt war freilich, dass mit dem Grün der Bäume die Farben Kurdistans, rot-gelb-grün, im Strassenbild präsent waren. «Wie lange sind sie schon Anhänger Galatasarays?», fragte ein Fernsehreporter einen feiernden Kurden. «Seit meiner Geburt», lautete die Antwort. Will sagen: «Ich bin als Kurde geboren.»
Und der auf der Gefängnisinsel Imrali einsitzende Öcalan, bekennender Galatasaray-Fan, der einst per Satellit in der libanesischen Bekaa-Ebene die Spiele guckte, beantragte über seinen Anwalt einen Fernseher, um das Endspiel im Uefa-Cup zu sehen. «Mein Mandant ist seit seiner Kindheit totaler Fan von Galatasaray», heisst es in dem Antrag des Rechtsanwalts an das Justizministerium, der ungerechterweise abgelehnt wurde. Der durch die Isolationshaft gesundheitlich mitgenommene Öcalan konnte das Spiel nur per Radio verfolgen. Die Treue der Kurden zu Galatasaray wurde in der türkischen Öffentlichkeit wohlwollend zur Kenntnis genommen. Schlägt das Herz des kurdischen Diyarbakir für Galatasaray, so muss es auch ein klein wenig für die Türkei schlagen. Und so hatten die Fussballgötter in dieser Saison endlich auch ein Einsehen mit den Kurden. Diyarbakirspor stieg tatsächlich in die erste Liga auf.

Marsch in die Zukunft
Mit dem Uefa-Cup-Sieg wurde auch die Integration der Islamisten vollendet. Wie fussballprüde waren sie doch einst. Nach dem Uefa-Cup kannten die islamistischen Blätter nur ein Thema: Galatasaray. «Dies ist ein Geschenk an die unteilbare Nation, das Türken, Kurden, Lasen und Tscherkessen vereint», kommentierte die Tageszeitung «Zaman». Ethnische, religiöse oder kulturelle Zugehörigkeiten schienen nach dem Pokalsieg Galatasarays von der Bildfläche ebenso verschwunden wie Klassenzugehörigkeiten. Ob reich oder arm, Türke oder Kurde, Sunnite oder Alewite - Galatasaray repräsentiert die Nation im Marsch in die Zukunft. Wohin der Marsch geht, ist vorgegeben und mittlerweile unstrittig: Die Türkei als Europameister. Die Türkei als Weltmeister. Die Türkei als Vollmitglied der Europäischen Union. Fussballsiege als Vorboten einer Epoche, in welcher die Mission des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk erfüllt wird.
Das bürgerliche Modernisierungsprogramm, das die Kemalisten nach der Republikgründung einleiteten, hatte Europa zum zentralen Bezugspunkt gewählt. Nur wer sich darauf besinnt, und Europa, wie einst die Kemalisten, die 1926 von einem Tag auf den anderen das Schweizer Zivilgesetzbuch einführten, zum Vorbild nimmt, dem ist Erfolg beschieden. Ein prominenter Kommentator der Tageszeitung «Milliyet» meinte vor dem Uefa-Pokal-Endspiel in Kopenhagen, dass die Frage «Sein oder nicht Sein» für die Türkei dort zwar entschieden werde. Doch ein Kopenhagener Sieg Galatasarays reiche bei weitem nicht aus. Und das nicht nur im Hinblick der nun auch bei den Europameisterschaften erhofften Erfolge der türkischen Nationalmannschaft. Andere Standards der EU wie die Einhaltung der Menschenrechte durch den Beitrittskandidaten Türkei müssten ebenfalls erreicht werden, damit das wunderschöne, gelb-rote Blumenbeet Galatasarays nicht durch irgendwelche Nestbeschmutzer Schaden nehme. Die türkischen Hooligans, die die Messer in Istanbul zückten und zwei englische Leeds-Fans töteten, gehören nach weit verbreiteter Ansicht ebenso zu den Nestbeschmutzern wie türkische Politiker, die sich gegen einen EU-Beitritt sträuben. Auch ein ehemaliger türkischer Diplomat wie Coskun Kirca, ein rechtskonservativer Falke, sieht das Erfolgsrezept Galatasarays vor allem in der Antizipation westlichen Gedankenguts. Nur dem sei Erfolg beschieden, der die Gefühle in den Dienst der Ratio stellt.
Über Jahrzehnte hinweg kamen nur die grossen Istanbuler Vereine als Meister in der Türkei in Frage - Galatasaray, Fenerbahce, Besiktas. Besiktas wurde immer als Verein der Pferdekutscher diffamiert. Über dem Verein lastete ein plebejisches Image, auch wenn er später nach Gründung der Republik einige Anhänger in der Staatsbürokratie rekrutierte. Die Fans von Fenerbahce waren bis in jüngster Zeit immer für rechten Extremismus empfänglich. Faschistische und chauvinistische Parolen hörte man von ihren Tribünen. Dagegen war Galatasaray stets die Mannschaft der Elite, der aufgeklärten Bourgeoisie. Die Elf der feinen Damen und Herren. Die Elf derjenigen, die sich benehmen können. Gerade deshalb kamen die heftigen Auseinandersetzungen mit den zwei Toten vor dem Leeds-Spiel in Istanbul doch eher überraschend.

Geister der Vergangenheit
Öffentliche Stellungnahmen des mächtigen türkischen Militärs zur EU sind rar. Doch wenn seitens des Generalstabschefs eine Erklärung abgegeben wird, dann gleicht sie in der Regel einem Machtwort. Noch vor Uefa-Cup-Finale und Europameisterschaften hat es Generalstabschef Kivrikoglu gesprochen: «Die Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU und der Westeuropäischen Verteidigungsunion ist eine geopolitische Notwendigkeit.» Die Militärs können derzeit mit dem Fussball wie mit der Regierungskoalition gleichermassen zufrieden sein. Beim entscheidenden Elfmeterschiessen bewahrten die Spieler von Galatasaray einen kühlen Kopf. Auch die Regierung wirkt wie ein überparteiliches Kabinett von Technokraten. Und hat es nicht eine tiefere Bedeutung, dass der Rektor der Galatasaray-Schule, der französischen Eliteschule in Istanbul, die bereits im Osmanischen Reich bürgerliche Modernisierer hervorbrachte, natürliches Mitglied des Vorstandes des Fussballvereins ist? Haben nicht deutsche Fussballlehrer wie Christoph Daum, Hans-Peter Briegel, Joachim Löw, Reinhard Saftig, Karlheinz Feldkamp oder Jupp Derwall den Türken westeuropäisches Fussballspielen beigebracht? War die Regierungskoalition unter Bülent Ecevit nicht die erste, die, um die Inflation zu bekämpfen, ein Stand-by-Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zustande brachte? Carlo Cotarelli vom IWF war vergangenen Monat in Ankara und bescheinigte der Regierung, die Hausaufgaben gut gemacht zu haben. Der Westen scheint den Türken wohlgesonnen. Die neue Zeit drängt nach neuen Identifikationssymbolen. Galatasaray und der türkische Fussball haben die eher unbeliebten Politiker im Parlament zu Randfiguren degradiert und sind - zumindest bis zum Auftreten bei der Europameisterschaft - selbst zum Politikum geworden. Am gleichen Tag, als Galatasaray Arsenal schlug, trat der neu gewählte Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer sein Amt an. Der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident war ein Kompromisskandidat der Parteien. Mit der breiten Befürwortung seiner Kandidatur hatte wohl niemand gerechnet. «Unser Land muss die Zivilisationswerte der Europäischen Gemeinschaft aufnehmen», sprach er bei seiner Antrittsrede im Parlament. Programmatisch forderte er, «die Strukturen und Taten, die an einen Polizeistaat erinnern», zu bekämpfen. Nach der repressiven Phase, der weitgehenden Zerschlagung systemfeindlicher politischer Strömungen und der Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen ist der türkische Staat um Integration bemüht. Die schmutzige Vergangenheit, das mafiose Zusammenwirken staatlicher Institutionen und rechtsextremistischer Todesschwadronen soll aber nicht aufgearbeitet werden. Doch so wie messerstechende Nestbeschmutzer die Erfolgsgeschichte von Galatasaray und des türkischen Fussballs stören, so belasten die Geister der Vergangenheit auch die grösseren und aktuellen, strategischen Ziele der Nation. Entsprechend versucht man sich, ihrer wieder zu entledigen. Wie auf Knopfdruck fand man auf einmal die in Massengräbern verscharrten Opfer der terroristischen Hizbollah. Auch dutzende Mörder wurden plötzlich gefasst, die für politische Morde an demokratischen Politikern und kurdischen Nationalisten verantwortlich waren. Eine unsichtbare Hand scheint den schmutzigen Krieg beendet zu haben und lässt Frieden einkehren. «Armeeeinheiten, euer erstes Ziel ist das Mittelmeer», soll Mustafa Kemal ausgerufen haben, als er die griechischen Truppen aus Anatolien vertrieb. Heute erscheint es ganz selbstverständlich, wenn ein türkischer Kolumnist unter Berufung auf dieses Zitat behauptet: «In der Türkei gibt es nur zwei Parteien. Die Partei für die EU und die Partei gegen die EU.» Der Kemalismus hat den bürgerlichen, türkischen Nationalismus mit Zivilisation gleichgesetzt. Und auch, wenn es die Westeuropäer nicht wollten, ist die Türkei fest entschlossen, sich den europäischen Raum zu erobern. IWF und Technokraten trimmen die Wirtschaft auf EU, ein ehemaliger Verfassungsgerichtspräsident lässt als Staatsoberhaupt den Rechtsstaat einkehren, das Militär sichert geostrategisch Europas Grenzen ab. Und Hakan Sükür schiesst die Tore.