Freitag, 9.6.2000

Daniel Kremer

Chirurgischer Schuldspruch

TRIBUNAL GEGEN DIE NATO IN BERLIN

Die juristische Aufarbeitung des Jugoslawien-Krieges ist verdienstvoll, eine neue Friedensbewegung kann sie nicht ersetzen

Nach eigenem Bekenntnis orientierten sich die Verhandlungen in der Kirche zum Heiligen Kreuz an den Russell-Tribunalen, die Ende der sechziger Jahre Teil einer weltweiten Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg waren. Anfang Juni 2000 - fast ein Jahr nach den NATO-Luftschlägen gegen Jugoslawien, die 80 Bombentage und -nächte gedauert hatten - geht es mit dem Berliner Tribunal um die juristische Seite dieses Krieges. Den Regierungen der NATO-Staaten soll die Verletzung der UN-Charta, des NATO-Vertrages und - im Falle Deutschlands - des 2+4-Vertrages nachgewiesen werden. Angesichts der Weigerung des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag, Ermittlungen gegen die NATO-Staaten aufzunehmen, können diese Untersuchungen von Kriegsschuld und -verbrechen derzeit wohl durch nichts ersetzt werden.

Jeder weiß heute im Prinzip um den Meinungsterror, der von Regierungen und Medien zur Rechtfertigung des Krieges entfacht wurde - aber niemand regt sich darüber auf, die Medien gefallen sich in ungetrübter Selbstgewissheit. Insofern versteht sich das Tribunal vorzugsweise auch als Aufklärungsinstanz.

Valentina Strauss, Pflichtverteidigerin der Angeklagten, meint denn auch, es gelte die Gleichgültigkeit angesichts der hohen materiellen und ideellen Schäden, die Jugoslawien zugefügt wurden, zu beenden. Wichtig sei es, die Menschen auf Verbrechen und Lügen aufmerksam zu machen, ihnen zu zeigen, dass es in ihrer Demokratie kein Korrektiv mehr gibt, um die dringend nötige Aufarbeitung zu leisten. Ebenso offenbar sei im Übrigen das Versäumnis der Gerichte, offene Rechtsbrüche - beispielsweise der rot-grünen Bundesregierung - nicht verfolgt zu haben. Die Anwältin will ein Signal geben, die Mächtigen unter Druck zu setzen und begangene Verbrechen zu ahnden. Auf die Frage, ob die gewählte Form diesem Anspruch gerecht werden kann, meint Strauss, es könne sich nur um einen Anfang handeln.

Kaum überraschend gab es nach zweitägiger Verhandlung einen einstimmigen Schuldspruch. Inwieweit derartige Tribunale (es haben andernorts assoziierte Veranstaltungen stattgefunden - die nächste wird am 10. Juni in New York sein) dieselbe Bedeutung für die Friedensbewegung haben wie ihre Vorbilder zu Zeiten des Vietnamkrieges, bleibt abzuwarten. Zweifellos konnte mit den akribisch zusammengetragenen Fakten und den bewegenden Aussagen jugoslawischer ZeugInnen nacherlebt werden, mit welchen Schrecken die Bombardierungen verbunden waren. Die in Berlin gehörten, ausnahmslos zivilen Opfer wurden in Hospitälern, einem Fernsehstudio, auf dem Feld oder auf einer Dorfstraße (in Montenegro) von den Luftschlägen überrascht. Das Tribunal wertete diese Aussagen nebst Selbstzeugnissen der NATO als Beleg für Verstöße gegen Humanität und Völkerrecht.

Dem persönlichen Leid der Opfer wird das sicherlich kaum gerecht. So wie sich die Veranstalter wohl insgesamt die Frage gefallen lassen müssen, ob eine rein juristische Behandlung dieses Krieges nicht nur zu kurz greift, sondern auch gefährlich sein könnte. Die Feststellung, der Krieg der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien sei deshalb zu verurteilen, weil er gegen bestimmte Rechtsgrundsätze verstoße, beinhaltet ja implizit auch die Aussage, dass ein Krieg mit UN-Mandat nicht zu verdammen sei. Ähnlich bedenklich wirkt die Erklärung von Admiral a. D. Elmar Schmähling, es sei eine Verrohung der Sitten, die Zivilbevölkerung - besonders Frauen und Kinder - zu attackieren. Sekundiert wird ihm dabei von einem sachverständigen Wehrexperten, der erklärt, heute seien ja chirurgisch genaue Angriffe möglich, die Zivilbevölkerung müsse also nicht zwangsläufig in Mitleidenschaft gezogen werden. Sollte das heißen, der Kampf Mann gegen Mann oder chirurgische Lufteinsätze gegen ausschließlich militärische Ziele seien keine Verrohung der Sitten, so müssen sich die Betreffenden wohl oder übel fragen lassen, ob sie sich über die Konsequenz ihrer Aussage tatsächlich im Klaren sind.

Das Publikum in der Kirche zum Heiligen Kreuz wirkte recht homogen, und das wohl nicht zufällig. Bei vielen Rednern ließ sich - als Antwort auf das überwiegend genau entgegengesetzte Bild in den Medien - eine Satanisierung der NATO und eine Heroisierung eines ihrer Widersacher, in diesem Fall Serbiens, heraushören. Da schien es nicht vorrangig um eine pazifistische Grundhaltung zu gehen. Lediglich eine - sicherlich berechtigte - Kritik an der NATO, vorrangig der USA, und ihrer Übermacht sollte artikuliert werden. Ob diese Herangehensweise perspektivisch friedenspolitische Erfolge zeitigt, erscheint zweifelhaft. Teile der Friedensbewegung der siebziger und achtziger Jahre orientierten sich an dem Grundsatz, dass der Abbau von Feindbildern, statt ihrer Kultivierung zu Frieden führt. Diese Idee eines friedlichen Miteinanders zu kommunizieren, sollte keine zu hohe Mission für ein solches Tribunal sein. Es wird sich zeigen, ob in seiner Nachfolge auch wieder über Pazifismus diskutiert werden kann. Erschweren könnte diesen Abschied von einem rein juristischen Exkurs - hin zu einer komplexeren Behandlung des Themas - auch das Fehlen einer starken Friedensbewegung, wie es sie in Westeuropa und den USA zur Zeit der Russell-Tribunale gab.