Badische Zeitung, 7.6.2000

Abgeschoben in ein falsches Idyll

Asylbewerber in der Isolation: Ein ehemaliges Heim für tuberkulosekranke Kinder im Hotzenwald dient als Flüchtlingsunterkunft

Von unserer Mitarbeiterin Ingrid Jennert

WALDSHUT-TIENGEN. Das Idyll trügt. Das Heim "Im Stieg" auf den Höhen des Hotzenwaldes liegt zwar traumhaft schön zwischen blühenden Wiesen und Obstbäumen. Doch was für Kinder, die an Tuberkulose erkrankt waren, einstmals zur Erholung diente, gerät den heutigen Bewohnern eher zum Alptraum: Die dort untergebrachten Asylbewerber fühlen sich hier völlig isoliert. Eine Kurdin hat sich aus Verzweiflung im "Stieg" erhängt.

Das ehemalige Erholungsheim liegt zwei Kilometer abseits vom Ort Unteralpfen oberhalb des Albtales. Die Kranken mussten ja isoliert bleiben. Heute bringt der Kreis Waldshut hier Asylbewerber unter: 125 Menschen aus 15 Nationen leben fast vollständig abgeschnitten von der Außenwelt. Eine Zuweisung nach "Stieg" wird daher von Asylbewerbern als Strafexpedition betrachtet, weiß Elisabeth Götz, Sozialarbeiterin des Deutschen Roten Kreuzes in Freiburg.

Im Februar hat sich die 21-jährige Kurdin Sultan Dogan im "Stieg" in ihrem Zimmer erhängt. "Sie war verzweifelt und hatte Angst, dort allein zu leben", sagt Mehmet Dogan, ihr Cousin. Die Trennung von den Eltern als unverheiratete Frau und die soziale Isolation habe Sultan nicht mehr ertragen. Die Eltern wohnten mit Sultans Bruder und Schwester nur etwa 50 Kilometer entfernt in Lottstetten, ebenfalls im Kreis Waldshut. Doch weil die Schlepperorganisation bei der Flucht der Familie aus Ostanatolien 1995 etwas vermasselt hatte, war Sultan erst Ende 1998 allein nach Deutschland gekommen. Und so liefen ihr Asylverfahren wie ihre Unterbringung separat. Sultan lebte zuerst in Freiburg, dann in Rheinfelden, ehe sie im September vergangenen Jahres ins "Stieg" verlegt wurde. Bei den Eltern wohnen durfte Sultan nicht. Sie hat es dennoch versucht, berichtet Mehmet. Doch das zuständige Ausländeramt kam dahinter und hat es unterbunden. Der Antrag der jungen Frau auf dauerhafte Verlegung zu ihren Eltern wurde aus formalen Gründen abgelehnt: "Als Asylbewerberin, deren Verfahren noch läuft, war sie verpflichtet, in einer Gemeinschaftsunterkunft wie im ,Stieg' zu leben. Diese Vorschrift gilt seit April 1998.

Die psychische Situation der jungen Kurdin, die auch mangels Deutschkenntnissen im Hotzenwald völlig isoliert war, schien niemanden zu interessieren. Der Heimleiter und sein Stellvertreter verweisen bloß weiter auf zwei Sozialarbeiter des Landratsamtes, die Sprechstunden in der Gemeinschaftsunterkunft abhalten. Doch auch die Sozialarbeiterin will nichts sagen.

Mehrnousch Zaeri, selbst ehemalige Asylbewerberin aus dem Iran und Moslemin, ist Flüchtlingskoordinatorin beim Diakonischen Werk in Lörrach. Sie kann sich gut vorstellen, dass die junge Kurdin verzweifelt war: "Eine unverheiratete muslimische Frau, die nicht im Schutze ihrer Familie lebt, gilt in der islamischen Gesellschaft als unehrenhaft."

Im Januar war die Ausreiseaufforderung an die Eltern und Geschwister ergangen, erzählt Mehmet. Darin vermutet er das auslösende Motiv für den Selbstmord seiner Cousine. Im Abschiedsbrief kommt die Liebe zu ihren Eltern und ihren Geschwistern noch einmal zum Ausdruck. Sie schreibt auch, niemand sei schuld an ihrem Selbstmord, sagt Mehmet. Aber für ihn ist dadurch niemand entlastet. "Die Ermittlungen dauern an": Mehr ist von der Waldshuter Polizei nicht zu erfahren.

Wie es wirklich im "Stieg" zugeht, weiß keiner der Menschen außerhalb zu sagen. Die Pfarrerin von Albruck hat gehört, dass die Polizei mehr Einsätze im "Stieg" fahren muss als früher, als dort noch Aussiedlerfamilien lebten. Der Sprecher der Waldshuter Polizeidirektion berichtet, dass es dort "vor ein paar Wochen" gebrannt habe. Nähere Informationen über Ursache oder Hintergründe liefert er nicht. Ein Mitarbeiter der Gemeinde Albbruck will "sich nichts entlocken lassen". Nur dies: Bei dem Brand seien "schließlich keine Menschen zu Schaden gekommen". Aber der Brand war mit ein Grund, warum sich Sultan Dogan im Hotzenwald oben geängstigt habe, sagt Mehmet.

Die Familie Dogan wurde bald nach Sultans Tod abgeschoben. Alle gemeinsam, einschließlich Sultan im Sarg.