Berner Zeitung (CH), 6.6.2000

Die kranke Stadt erholt sich langsam

Istanbul drohte noch vor wenigen Jahren der ökologische Kollaps. Heute geht es der Stadt bereits viel besser.

*Jan Keetman, Istanbul

Wer um die Mitte des vergangenen Jahrzehntes Istanbul besuchte, nahm insbesondere im Winter den Eindruck mit, die grösste Stadt der Türkei stehe unmittelbar vor einem Umweltkollaps. Wenn man abends das Fenster zum Lüften öffnen wollte, schlug einem ein beissender Gestank entgegen, nach jedem Regen war die ganze Stadt von dicken schwarzen Schlieren bedeckt. Im Sommer war es zwar besser, dafür stank jene Lagune mit dem romantischen Namen Goldenes Horn wie eine Jauchegrube.

Starke Zuwanderung Die Stadt hatte, teilweise als Folge des Krieges in den kurdischen Provinzen, eine Zuwanderungswelle zu verkraften, die wohl jede Verwaltung erst einmal überfordert hätte. Istanbul wuchs jährlich um gut eine halbe Million Menschen. Dazu kam der Gebrauch schlechter Öfen und billiger, aber minderwertiger türkischer Kohle, die zum grossen Teil direkt am Stadtrand geschürft, auf Lastwagen gekippt und auf dem Pflaster der Gassen abgeladen wurde, wo sie das Regenwasser schwarz färbte. Istanbul ist zwar auch heute noch keine besonders saubere Stadt, aber der schon mit der Nase wahrnehmbare Unterschied zu früher ist beträchtlich. Warum das so ist, erklärt ein lebhaft mit Zahlen und Plänen agierender Mann, Mustafa Öztürk, der Leiter der Umweltschutzbehörde in der islamitischen Stadtverwaltung. Kaum hatten die Islamiten Mitte der Neunzigerjahre das Rathaus von Istanbul erobert, begannen sie beim Umweltschutz Nägel mit Köpfen zu machen. Die Kohlegruben im Umkreis der Stadt wurden kurzerhand geschlossen, und etwa die Hälfte der Istanbuler Haushalte wurden auf Erdgas umgestellt, das weniger Schadstoffe enthält als Kohle und sich auch kontrollierter verbrennen lässt.
Nimmt man als Anhaltspunkt für die Luftreinheit Schwefeldioxid, jenen Stoff, der sich mit Wasser in schweflige Säure verwandelt, so lässt sich die Verbesserung in Zahlen ausdrücken: 1994 enthielt 1 Kubikmeter Is-tanbuler Winterluft am Abend zwischen 350 und 400 Milligramm Schwefeldioxid. Heute liegt der Wert um die 60 Milligramm. Durch neue Verordnungen über das Heizen von Neu- und Altbauten will Öztürk den Wert noch auf 30 drücken.

Verkehrsstau und Ozon
Während die Winterschlacht um die Istanbuler Luft also zu einem guten Teil gewonnen ist, spitzt sich die Lage im Sommer weiter zu. In der Stadt sind derzeit über 2 Millionen Fahrzeuge zugelassen, und jedes Jahr werden es zwischen 180 000 und 300 000 mehr. Obwohl man auch durch Istanbul einige Schneisen gelegt hat, ist die Stadt noch lange nicht autogerecht und sollte es auch besser nie werden. Als Folge aber stehen die Fahrzeuge häufig im Stau oder kriechen nur durch die Strassen. Dabei verbrauchen sie die doppelte Menge Benzin. Die dabei entstehenden Stickoxide und Kohlenwasserstoffe erzeugen in der Sommerhitze Ozon, und das Kohlenmonoxid hemmt die Atmung.
Gegen den Verkehrssmog hat Mustafa Öztürk viele Pläne und Projekte, zum Beispiel auch den Ausbau des Nahverkehrs. Seit Jahren dümpelt jedoch das Projekt einer U-Bahn vor sich hin, nur ein winziges Stück ist im europäischen Teil Istanbuls realisiert worden.
Bleibt das dritte grosse Umweltproblem Istanbuls, das Goldene Horn. 5 bis 6 Meter tief hat Öztürk den Boden der Lagune ausbaggern lassen, und 4,5 Millionen Tonnen Lehm und Schlick wurden gereinigt, schmutzige Industriebetriebe am Ufer geschlossen. Nun lädt Mustafa Öztürk jeden, der will, mit ihm zum Schwimmen im Goldenen Horn ein. Allerdings erst in zwei Jahren, und die Annahme der Einladung sollte man sich noch mal überlegen. Jemand, der die Tiefen des Goldenen Horns sehr genau kennt, Inkilap Obruk, Vorsitzender eines Tauchclubs, rät jedenfalls dringend ab: «Wir tauchen ja da und sehen, in welchem Zustand das Goldene Horn wirklich ist», meint Obruk und warnt davor, ohne Schutzanzug zu schwimmen. Ihm stimmen andere Fachleute zu, die darauf hinweisen, dass noch immer Abwässer ins Goldene Horn fliessen und dass sich die ökologisch gekippte Lagune ohnehin nicht in zwei Jahren regenerieren könne. Wieder die Nase als Massstab genommen, ist doch auch die Situation am Goldenen Horn besser geworden. Der kranken Stadt am Bosporus geht es nicht gut, aber doch deutlich besser als vor wenigen Jahren.*