junge Welt, 05.06.2000

Die Angst bleibt

Berlin: Europäisches Tribunal über NATO-Krieg gegen Jugoslawien endete mit Schuldspruch

»Sie haben unser Leben zerstört.« Nicht die ausgefeilte umfangreiche Anklageschrift des Berliner Rechtsanwalts Ulrich Dost, nicht die lehrreiche Eröffnungsrede des Völkerrechtlers Prof. Norman Paech und wohl selbst nicht der Schuldspruch am Ende bewegte die Teilnehmer des Europäischen Tribunals über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien so wie die Schilderung von Marjana Brudar. Erst am Freitag mittag hatte sie zusammen mit sechs weiteren Überlebenden der NATO-Angriffe im vergangenen Jahr von der deutschen Interessenvertretung in Belgrad nach langem Hin und Her die notwendigen BRD-Einreisevisa erhalten, um in Berlin als Zeugin aussagen zu können.

Marjana Brudar berichtete am Samstag detailliert den mehreren hundert Anwesenden sowie dem Tribunalgericht, ins Leben gerufen von der Friedensbewegung in Europa, über einen Angriff der NATO unweit von Morina, bei dem ihre Tochter, ihre Nichte sowie 86 weitere Kinder ums Leben gekommen waren. Während des Krieges und danach habe sie zudem streßbedingt zwei Fehlgeburten gehabt, erzählte die junge Frau unter Tränen. »Ich möchte, daß Blair an meine Mutter denkt, die ihre Enkeltochter zerfetzt in einer Plastiktüte entgegennehmen mußte«, schloß Brudar ihre Zeugenaussage.

Die Übersetzerin Irena Dinic berichtete über die Bombardierung eines Belgrader Krankenhauses am 20. Mai, wo sie ihre Tochter Jelena als Frühgeburt per Kaiserschnitt zur Welt gebracht hatte. Vier Menschen waren bei diesem Angriff ums Leben gekommen. »Ich hatte überlebt und wurde zusammen mit meiner Tochter in ein anderes Hospital gebracht.« Die Angst sei aber geblieben, »wenn mich die NATO-Bomben in diesem Krankenhaus ereilten, warum dann nicht auch in einem anderen«.

Der Schaffner Milan Simonovic schilderte die Bombardierung des Personenzuges in Grdelica, der Journalist Milos Markovic den Angriff auf das RTS-Gebäude in Belgrad und der Arzt Dejan Sumrak die NATO-Attacke auf sein Krankenhaus in der jugoslawischen Hauptstadt. Djordje Ivic bezeugte einen Angriff mit Splitterbomben auf das Dorf Kosovska-Vitina. Sein elfjähriger Sohn Danilo hatte dabei beide Beine sowie ein Auge verloren. »Wir haben alles verloren und wissen nicht, wie wir die Bedingungen wiederherstellen können, unter denen wir zuvor gelebt haben«, schloß der Kosovo-Vertriebene. Spontan sammelten die Tribunalteilnehmer 1 400 DM für die notwendig gewordenen Beinprothesen seines Jungen.

Ein kleiner Ausschnitt nur dessen, was die NATO bei ihrem 78 Tage und Nächte andauernden Bombardement in Jugoslawien angerichtet hatte, war an diesem Samstag in der Berliner Kirche zum Heiligen Kreuz zu hören. Doch nicht von Emotionen oder der Moral wollte sich die zehnköpfige Richterjury des Tribunals bei der Urteilsfindung leiten lassen. Kriterien seien einzig »die internationalen Normen, die sich die Staaten selbst zur Regelung ihrer Beziehungen untereindander gegeben haben«, erklärte der Vorsitzende des Verfahrens, Prof. Norman Paech. Diese seien in internationalen Konventionen festgehalten und daher nachprüfbar. Vor allem aber gälten sie für alle Staaten gleich. Vom Tribunal behandelt würden schließlich nur jene Anklagen, die keine Aussicht hätten, vor dem Kriegsverbrechertribunal der Vereinten Nationen verhandelt zu werden. Tatsächlich hatte die Chefanklägerin des Haager Tribunals, Carla del Ponto, erst am Freitag vor dem UN-Sicherheitsrat in New York erklärt, daß es keine »hinreichende Grundlage für Ermittlungen gegen die NATO« gebe.

Deutlicher hätte die Notwendigkeit eines »Tribunals von unten« nicht formuliert werden können. Die Berliner Versammlung wurde von Friedens- und Menschenrechtsgruppen aus mehr als 15 europäischen Ländern initiiert. Vorbild waren die Russel-Tribunale gegen den Vietnamkrieg Ende der 60er Jahre. Vor einem Jahr hatten sich Organisationen und Parlamentarier zusammengefunden, um die Verantwortlichkeit der Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten sowie ihrer Militärs für ihre Verbrechen beim Angriffskrieg gegen Jugoslawien vor einem »Gericht der Völker« zu benennen. Im Vorfeld gab es Tribunalveranstaltungen und Hearings in Berlin, Hamburg, Rom, Oslo, Kiew, Athen, Belgrad und anderen europäischen Städten.

Neben den Zeugen aus Jugoslawien hörte das Tribunal in Berlin zahlreiche Sachverständige zum Thema, darunter den ehemaligen DDR-Botschafter in Jugoslawien, Ralph Hartmann. Er führte aus, daß die NATO den Krieg mit »lang gehegten Vorsätzen gegen Jugoslawien geführt« habe. Die Bundesregierung könne für sich nicht reklamieren, in den »Krieg hineingeschlittert zu sein, wie man uns weismachen will«. Die Pariser Publizistin Diana Johnstone zeigte die geopolitischen Hintergründe des Krieges auf. Diese seien nicht allein auf dem Balkan zu suchen, vielmehr reichten sie bis tief in den Kaukasus. Prof. Ernst Woit und Prof. Claudia von Werlhof refererierten zum Komplex »Kollateralschäden« und Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Die NATO-Aussage, in Diktaturen gebe es keinen Unterschied zwischen militärischer und ziviler Infrastruktur, habe ganz Jugoslawien zum legitimen Angriffsziel erklärt. »Das haben sich nicht einmal die Hitlerfaschisten getraut«, so Woit.

Dr. Ljiljana Verner von der medizinischen Hochschule Hannover und Mitglied der Ärztevereinigung IPPNW sprach über die Folgeschäden eingesetzter geächteter Waffen, insbesondere der Munition mit abgereichertem Uran. Der Krieg sowie die zehnjährigen Sanktionen hätten in Jugoslawien eine »medizinische Katastrophe« angerichtet. Paech würdigte die bisherige Arbeit der »Ärzte zur Verhinderung eines Atomkrieges« über die krankmachenden Folgen der Uran- Munition insbesondere im Irak und forderte dazu auf, das Kosovo in die Untersuchungen mit aufzunehmen.

In ihren Schlußplädoyers forderten die Vertreter der Anklage die Verurteilung der Beschuldigten. Der französische Rechtsanwalt Pierre Kaldor umriß die Dimension des Tribunals mit wenigen Worten: »Die Antwort des Gerichts ist der Zukunft verpflichtet«. Der bulgarische Völkerrechtler und Spiritus rector der Tribunalbewegung, Prof. Welko Walkanoff, meinte, »alle Angeklagten sind strafrechtlich verantwortlich für die Aggression gegen Jugoslawien«. Doch auch diejenigen, die der NATO ihre Logistik für den Angriff zur Verfügung gestellt hätten, seien schuldig.

Warum Berlin der richtige Ort für das europäische Tribunal sei, führte Rechtsanwalt Ulrich Dost aus. »Deutschland hatte die Chance zu zeigen, daß es die Lehren aus zwei Weltkriegen gezogen hat. Sie wurde nicht ezogen.« Trotz des im NATO-Krieg zutage getretenen Rechtsnihilismus gelte es, das Grundgesetz zu verteidigen und alle juristischen Möglichkeiten auszuschöpfen, die Angeklagten auch vor einem ordentlichen Gericht zur Rechenschaft zu ziehen. »Recht muß der Macht vorgehen und nicht die Macht vor dem Recht«, so Dost.

Erwartungsgemäß waren die Angeklagten weder persönlich noch in Vertretung zum Tribunal erschienen. Das Gericht sah sich mithin gezwungen, eine Pflichtverteidigerin zu benennen. Daß mit der Rechtsanwältin Walentina Strauss in Berlin ausgerechnet eine Russin zur Verteidigerin der NATO wurde, war eine Spitze der besonderen Art. Nach den vorliegenden Fakten handele es sich beim Krieg auf Jugoslawien zwar eindeutig um eine Aggression. Strauss betonte in ihrer Verteidigungsrede allerdings die Mitschuld der UNO, der OSZE und des Internationalen Roten Kreuzes, die nicht rechtzeitig Maßnahmen zur friedlichen Konfliktlösung ergriffen hätten. Überdacht werden müsse darüber hinaus die Moral von Gesellschaften, die dazu in der Lage seien, ihre Soldaten gegen Länder in den Krieg zu schicken, die ihnen nichts getan hätten.

Auch wenn die Verteidigung »durchaus mit Eleganz« (Paech) vorgetragen wurde, das Urteil der Jury war am Samstag abend einstimmig: Schuldig im Sinne der Anklage.

Rüdiger Göbel