Süddeutsche Zeitung, 31.5.2000

Ein Folterbericht quält die Türken

Zum ersten Mal bestätigt ein nationaler Untersuchungsausschuss regelmäßige Misshandlungen in der Polizeihaft

Als Frau ist Sema Piskinsüt einiges an Vorurteilen und Anzüglichkeiten gewohnt im harten türkischen Politikbetrieb; aber erst jetzt dürfte sie sich wirklich Feinde geschaffen haben. Denn die Parlamentsabgeordnete hat als Vorsitzende eines Untersuchungsausschusses einen brisanten Bericht vorgelegt, in dem routinemäßige Misshandlungen und Folterungen in Polizeihaft belegt werden. Für Menschenrechtler in Europa, Amerika und der Türkei birgt der Report zwar keine Überraschungen. Sie haben seit Jahr und Tag Folteropfer befragt und minutiös protokolliert, wie die Polizei in der Haft Verdächtige malträtiert. Nun aber hatte sich mit dem Untersuchungsausschuss erstmals eine staatliche Stelle des Themas angenommen und ist im Grunde zu denselben Ergebnissen gekommen. Die Kommission hat in den vergangenen zwei Jahren mehr als 8500 Menschen befragt. Sie untersuchte Polizeireviere von Istanbul im Westen bis Erzurum und Elazig im Osten Anatoliens. Bei Stichproben und unangekündigten Besuchen beschlagnahmten die Kommissionsmitglieder diverse Instrumente, die zu Folterungen verwendet werden konnten, und übergaben dieses Beweismaterial dem Staatsanwalt. Seitdem weiß man in der Türkei, was ein Kurbeltelefon ist und was man mit einem "palästinensischen Kleiderbügel" anstellt. Mit dem altmodischen Fernsprecher werden Stromstöße appliziert, und der offenbar von israelischen Folterexperten entwickelte Kleiderbügel wird den Delinquenten unter den Armen durchgezogen, bevor man sie daran aufhängt. Aber auch aus der osmanischen Vergangenheit bewährte Methoden werden nach den Erkenntnissen des Ausschusses in Kemal Atatürks Republik bewahrt und gepflegt: In manchen Polizeistationen gab es eine Bastonade, also Schläge auf die Fußsohlen. Besonders pikant ist, dass die Ausschussvorsitzende Piskinsüt derselben Partei angehört wie Regierungschef Bülent Ecevit und Justizminister Hikmet Sami Türk. Letzterer musste kraft Amtes eine Stellungnahme zu dem Bericht abgeben und flüchtete sich dabei in den altbekannten Pawlowschen Reflex türkischer Staatsvertreter: Einzelne Fälle von Folter mag es gegeben haben, die Quälerei von Häftlingen sei aber nie "offizielle Politik des Staates gewesen. Wie schon tausendmal zuvor wurde auch diesmal wieder rasche Abhilfe versprochen. "Folter ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit", sagte Türk. "Wir werden Foltervorwürfen entschieden nachgehen." Als ob dies nicht genug der unfreiwilligen Komik wäre, fügte der Minister hinzu, dass die Türkei in der Frage der Menschenrechte ein modellhaftes Vorbild für die ganze Welt werden wolle. Einige der Gouverneure, die in der Türkei den Staat in den einzelnen Provinzen repräsentieren, scheinen von einem modellhaften Charakter jedoch noch weit entfernt zu sein. So wischte beispielsweise Erol Cakir, der Gouverneur von Istanbul, die Entdeckung von Folterinstrumenten in seiner Stadt mit der schnoddrigen Bemerkung beiseite: "Also jemand hat irgendwo ein Holzstück gefunden. Machen wir aus Mücken keine Elefanten." Eine ganz besondere Logik hatte sich Nihat Canpolat, der Gouverneur der zentralanatolischen Provinz Kayseri, zurechtgelegt. "Menschenrechte können nur Menschen zugeschrieben werden", teilte er nach Pressemeldungen mit. "Aber wer die innere Harmonie zerstört, hat es nicht verdient, als Mensch behandelt zu werden.

Wolfgang Koydl