Berliner Zeitung, 29.5.2000

Kommentar

Neid auf die Demokratie in Iran

von Martina Doering

An einem Tag im Februar standen die Iraner in langen Schlangen vor den Wahllokalen, um sich ein neues Parlament zu wählen. Die Beteiligung war hoch, das Ergebnis eindeutig: Zwei Drittel der Abgeordneten in der neuen Volksvertretung werden dem Reformlager zugerechnet. Drei Monate folgten, in denen die Verlierer das Ergebnis "korrigieren" wollten. Dann akzeptierten die Konservativen das Votum. Am vergangenen Sonnabend konnte sich nun endlich das Parlament konstituieren.

Was die Reformer vorhaben, kündigten sie gleich nach der Sitzung an: Wirtschaftsreformen stehen ganz oben auf ihrem Programm. Iran soll sich gegenüber dem Ausland öffnen. Die restriktiven Pressegesetze werden abgeschafft, das Verbot von Satellitenschüsseln aufgehoben. Sie versprechen Meinungsvielfalt und Rechtssicherheit. Vor allem aber wollen sie den Iranern mehr Freiheiten zugestehen. Die Kleriker sollen das Leben der Menschen nicht mehr bis unter die Bettdecke reglementieren dürfen.

Der Wandel wird sich nicht sofort und nicht ohne Rückschläge vollziehen. Denn das Parlament ist nicht die oberste gesetzgebende Instanz. Das hat Ajatollah Chomeini noch zu seinen Lebzeiten verhindert, als er religiöse Kontrollorgane in der Verfassung verankerte. Auch werden die Konservativen ihren Widerstand gegen die Veränderungen nicht aufgeben. Und zudem besteht die Gefahr, dass sich die Reformer in Flügelkämpfe verstricken.

Was dieses neue Parlament aber auslösen kann, ist nicht nur ein grundlegender Wandel des Systems, sondern eine zweite Revolution - mit Auswirkungen, die über die Grenzen des Landes hinausgehen. Eine solche Wirkung hatte schon die Machtübernahme der Mullahs vor 20 Jahren. Islamistische Bewegungen erhielten Auftrieb, neue Krisenherde entstanden und wieder einmal wurden Kriege im Namen Allahs geführt. Radikale Moslems lehrten westliche Staaten mit religiös-motivierten Anschlägen das Fürchten. Die Entwicklung, die sich jetzt in Iran abzeichnet, könnte wieder Vorbild sein: für die friedliche Demokratisierung eines Regimes, vielleicht sogar für eine Verknüpfung von Islam und Demokratie.

Nicht bei allen löst eine solche Vorstellung Freude aus. Radikalen Exil-Iranern gefällt nicht, dass sich der Mullah-Staat friedlich verändert. Eine Revolution soll ein säkulares System an seine Stelle setzen. Den Hardlinern in den USA kommt plötzlich ein Schurkenstaat abhanden, mit dem sich bisher zusätzliche Ausgaben für die Rüstung rechtfertigen ließen. Verbündete der USA sorgen sich als "Frontstaaten" um amerikanische Finanzhilfe. Westliche Kommentatoren müssen plötzlich differenzieren: Nicht unter jedem Turban steckt ein fanatischer Fundamentalist, der die grüne Fahne des Islam von Australien bis Alaska flattern sehen will. Richtig schwierig aber droht die Lage für die Regierenden der islamisch-arabischen Staaten zu werden.

In Saudi-Arabien und den Golfstaaten herrschen Despoten. In Jordanien und Marokko bestimmen Könige, was ihre Parlamente und Premiers tun. Nahöstliche Republiken sind Mogelpackungen: Wo Republik drauf steht, steckt stets ein totalitäres Regime drin. Für die meisten dieser Staaten gilt, was die Syrer mit einem Witz ausdrücken: "Exzellenz, nur 0,3 Prozent haben gegen Sie gestimmt. Was wollen Sie mehr?" wird Hafez Assad vermeldet. "Die Namen!", entgegnet der Präsident. Wie in Syrien werden aber auch in Ägypten, Tunesien oder Algerien Oppositionelle verfolgt und Dissidenten oft nicht nur mundtot gemacht. Die Presse fungiert als Sprachrohr der Herrschenden. Wahlresultate stehen vor den Wahlen fest. Die Zustimmung liegt immer bei fast 100 Prozent.

Die wenigen unabhängigen Blätter in der arabischen Welt haben die Wahlen in Iran genutzt, um Hiebe auszuteilen. "Anders als in arabischen Ländern suchten die Verlierer in Iran keine Entschuldigungen wie ausländische Umtriebe, um die Entwicklung zu blockieren", schrieb die Zeitung "As Sharq al Aussad". Ein am Golf erscheinendes Blatt empfahl, die Entwicklung in Iran zu analysieren, um "Schlüsse für das eigene System zu ziehen". Die Intellektuellen im Nahen Osten spüren Neid, die Herrscher fürchten den Domino-Effekt: Der Demokratisierungsprozess in Iran ist allem, was in der arabischen Welt praktiziert wird, weit voraus.

Nahöstliche Republiken sind Mogelpackungen: Wo Republik drauf steht, steckt stets ein totalitäres Regime drin.