Kölner Stadtanzeiger, 29.5.2000

Wenig Neues im Folterstaat Türkei

Quälende Routine

Von Gerd Höhler

Folter auf türkischen Polizeiwachen? Allenfalls seltene bedauerliche Einzelfälle gebe es, versichert die Regierung in Ankara. Aber ein türkischer Parlamentsausschuss kommt zu ganz anderen Erkenntnissen. Sadistische Misshandlungen seien an der Tagesordnung, die Folter sei Routine.

In den vergangenen zwei Jahren inspizierten Mitglieder der Parlamentskommission für Menschenrechtsfragen Dutzende von Polizeistationen und sprachen mit mehr als 100 Folteropfern. In sechs Bänden haben sie die Ergebnisse ihrer Untersuchungen vorgelegt. Der Bericht enthält detaillierte Aussagen von gequälten Häftlingen, Lagepläne der Folterkammern und Fotos der Folterwerkzeuge.

Allein in Istanbul wurden 32 Polizeiwachen identifiziert, auf denen Folterungen an der Tagesordnung sind. Bei ihren unangemeldeten Inspektionen, die stets nach Mitternacht stattfanden, entdeckten die Parlamentarier Folterwerkzeuge wie Elektrokabel, Hochdruck-Wasserschläuche, Feldtelefone und Generatoren, mit denen Gefangenen Stromstöße versetzt werden, verschiedene Vorrichtungen zum Aufhängen von Menschen und zahlreiche Schlaginstrumente.

Eine der Folterkammern war mit schalldämmenden Materialien ausgeschlagen, offenbar um die Schreie der Gequälten zu dämpfen. In dem Raum stand zudem eine große, mit Wasser gefüllte Tonne. Über den Verwendungszweck des Bottichs machten die Polizisten keine Angaben. Ein im Februar von den Parlamentariern befragter 16-jähriger, der eines Autodiebstahls verdächtigt wurde, konnte die Abgeordneten aufklären. Er habe während seiner Verhöre zwei Stunden lang in der mit kaltem Wasser gefüllten Tonne sitzen müssen; danach sei er mit Stockschlägen malträtiert worden.

Vergebliche Vertuschung

In vielen Fällen habe die Polizei versucht, die Folterwerkzeuge rasch beiseite zu schaffen und den Abgeordneten den Zutritt zu bestimmten Räumen zu verwehren, berichtete die Ausschussvorsitzende Sema Piskinsut von der Partei der Demokratischen Linken des Ministerpräsidenten Bülent Ecevit. Doch Vertuschungsversuche waren vergebens. Im fast allen Städten sagten nahezu alle Häftlinge aus, sie seien nach ihrer Festnahme von der Polizei oder der paramilitärischen Gendarmerie gefoltert worden.

Der Bericht der Parlamentskommission bestätigt ein weiteres Mal die seit Jahren erhobenen Foltervorwürfe gegen das Nato-Land Türkei, das nun auf baldigen Beitritt in die Europäische Union drängt. Nach Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung sind im vergangenen Jahr 594 Fälle von Folter bekannt geworden. Mindestens neun Menschen wurden von den Folterern zu Tode gequält. Die tatsächliche Zahl der Misshandelten dürfte jedoch um ein Vielfaches höher liegen.

Die 25 an der Untersuchung beteiligten Abgeordneten stellten zwar in einigen Polizeistationen Verbesserungen fest. So habe sich die Situation im südostanatolischen Tunceli seit 1998 deutlich verbessert. Die Zellen für Polizeigewahrsam wurden renoviert und mit Überwachungskameras ausgestattet, der örtliche Polizeichef und der Gendarmerie-Kommandeur ließen "Respekt für die Menschenrechte" erkennen.

Jahrelange Prozesse

In Erzurum dagegen konnten die Abgeordneten keine Fortschritte entdecken: "Die Instrumente, die zu Misshandlungen und Folter dienen, waren in den Polizeistationen weiterhin vorhanden, obwohl die Beamten ihr Bestes getan hatten, sie zu verstecken", heißt es im Bericht. In Erzincan waren bei der jüngsten Inspektion zwar die zuvor vorhandenen Deckenhaken, an denen Festgenommene beim Verhör aufgehängt wurden, inzwischen entfernt und die Löcher mit Zement zu gespachtelt. Die Abgeordneten entdeckten aber andere Räume, in denen, wie es vage heißt, "immer noch unerwünschte Praktiken durchgeführt werden".

Begünstigt wird die Folter nach Erkenntnissen der Abgeordneten durch die langen Fristen, die im Polizeigewahrsam gelten. In den unter Ausnahmezustand stehenden Südostprovinzen können Verdächtige bis zu sieben Tage ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten werden. Bemängelt wird in dem Untersuchungsbericht auch die lange Dauer vieler Strafverfahren: Insbesondere manche politischen Prozessw dauert Jahre.

Die eigentliche Verantwortung für die Folterpraktiken tragen nach Meinung des Untersuchungsausschusses die Staatsanwälte und Provinzgouverneure. Sie hätten "sowohl die Befugnis wie auch die Pflicht, das gesamte System zu beaufsichtigen und zu inspizieren."

Der Bericht gibt Empfehlungen, wie die Folterpraktiken auszuschließen seien - was sich "nicht so schwierig wie oft dargestellt" gestalte, sofern der Wille vorhanden sei, Menschenrechtsverletzungen "ohne weiteres Zögern abzustellen". Die Verantwortlichen müssten identifiziert und in der Öffentlichkeit zur Rechenschaft gezogen werden, heißt es in dem Bericht. Bisher seien Foltervorwürfe nicht mit dem nötigen Nachdruck aufgeklärt worden.

Die Abgeordneten bemängeln auch, dass selbst überführte Folterknechte oft mit Samthandschuhen angefasst werden. Es sei "beunruhigend", dass sogar Beamte, die wegen Folterungen bestraft wurden, immer noch auf ihren alten Posten tätig seien. Die bedeute Straffreiheit für Menschenrechtsverletzer.