junge Welt, 27.05.2000

Interview

BRD mitverantwortlich für Vertreibungen in der Türkei?

jW sprach mit Hans Branscheidt, Chefredakteur des Rundschreibens von medico international

F: Während in China Staudammprojekte in massiver Kritik stehen, plant die Türkei von der internationalen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt ein Großvorhaben mit dem Namen Südostanatolienprojekt. Worin besteht das Projekt?

Das ist eines der größten Entwicklungsprojekte der Erde. Im Südosten der Türkei wird mittels von 21 Staudämmen alles Wasser gesammelt, was insgesamt im Nahen Osten zur Verfügung steht. Die beiden Flüsse Euphrat und Tigris haben ihre Quellgebiete in den kurdischen Bergen, und das Wasser dieser beiden Flüsse wird bei diesem gigantischen Projekt gestaut. Die Türkei plant auch, 19 Turbinenkraftwerke zu errichten, so daß sie nicht nur über das Wasser der beiden Flüsse verfügt, sondern auch über die Energieversorgung der gesamten Region. Das geschieht auf eine Weise, die politisch nicht tragbar ist, die gegen Menschenrechtsstandards verstößt und die ökologisch verheerend ist.

F: Welche Konsequenzen hat das Projekt für die Menschen in der Region, in der hauptsächlich Kurden leben?

Die Auswirkungen sind in jeder Hinsicht von grandiosen Ausmaßen. Die Menschen dort haben bereits den Befehl von den türkischen Behörden erhalten, das Gebiet zu verlassen. Insgesamt sind etwa 25 000 Menschen betroffen: Ohne eine Entschädigung zu bekommen, ohne den Rechtsweg beschreiten zu können und ohne daß für ihre weitere Ansiedlung, also für ihre weitere Lebensexistenz, Raum geschaffen worden ist. Die Stauwerke werden dazu führen, daß man das Land großflächig bearbeiten kann, mit großer Maschinerie. Und das heißt natürlich für die kleinen Subsistenz-Bauernwirtschaften, daß sie zu sozialen Flüchtlingen gemacht werden. Neben den 4 000 kriegszerstörten kurdischen Dörfern werden durch die Staudammprojekte weitere Zehntausende Menschen vertrieben.

Ökologisch ist das ganze Projekt auch deshalb fatal, weil diese große Wassermenge schon jetzt zu Verdunstungen geführt hat, die in den Obstplantagen der Bauern zu Pilzbefall geführt haben, gegen den die Bauern machtlos sind. Zudem: Es wurden keine Umweltverträglichkeitsgutachten eingeholt. Darauf hat auch der Kreditgeber Bundesrepublik verzichtet.

F: Konsequenzen bestehen nicht nur für die Menschen, sondern auch für das kulturelle Erbe der Region. Inwieweit werden Kulturdenkmäler in Mitleidenschaft gezogen?

Die dort vorhandenen Kulturdenkmäler, so schätzen es Experten ein, gehen über das hinaus, was seinerzeit in Troja gefunden worden ist. Dieses Erbe wird unwiederbringbar verlorengehen. Im Moment sind Archäologen dabei, gewissermaßen im Hauruckverfahren, bei stetig steigendem Wasser, zu retten, was noch zu retten ist. Viele der historischen Bauwerke sind aus Kalkstein, und der löst sich ja dann im Wasser sehr schnell auf. Die Zerstörung wird irreversibel sein.

F: Welche strategische Bedeutung hat dieses Staudammprojekt für das NATO-Mitglied Türkei und wer unterstützt das Megaprojekt?

Die türkische Regierung verfolgt mit dem Projekt nach eigenen Angaben machtpolitische Interessen. Sie will die Hoheit nicht nur über das Wasser des Nahen Osten haben, sondern auch über die Energiepolitik dieser gesamten Region bestimmen können. Betroffen sind davon nicht nur die Anrainerstaaten Syrien und der Irak, sondern auch die gesamten Golfstaaten, Israel und Palästina. Betroffen davon ist auch die Friedenspolitik zwischen Israel und den Palästinensern, denn ohne Wasser, ohne die Lebens- und Entwicklungsmöglichkeit durch die Verfügung über Wasser und Elektrizität, wird überhaupt keine friedliche Lösung im Nahen Osten möglich sein. Die Türkei begreift sich allerdings in einer solchen Situation als die starke führende Pilotmacht, die die Entwicklung in dem gesamten Gebiet nach eigenem Gusto bestimmen möchte.

Die Konsequenzen der Stauung des Wassers sind ja schon eingetreten. Die Türkei hat ja bereits die Wassermenge nach Syrien und dem Irak kontingentiert, also reduziert in den letzten Jahren. Und das bedeutet ganz konkret, daß die Bauern in diesen Ländern nicht genug Wasser haben, um ihre Felder bewässern zu können, und daß in der Folge Nahrungsmittel fehlen. Für den Irak ist das eine Embargosituation, durch die auch Kinder sterben. Unterstützung findet das Projekt durch die USA, die Schweiz und Deutschland.

F: Wird der nächste Krieg im Nahen Osten also um Wasser geführt?

Der Generalsekretär der UNO, Kofi Annan, hat das ja schon so prophezeit. Er hat gesagt, der nächste Krieg wird um Wasser gehen, und er bezog sich dabei eindeutig auf den Nahen Osten. Ich würde das Staudammprojekt der Türkei insgesamt als Destabilisierung der Region sehen.

F: Ist das noch zu verhindern?

Natürlich wäre das noch zu verhindern. Man mußte eine internationale Charta über die gerechte Wasserverteilung in Kraft setzen. Die Türkei hat mehr Wasser, als sie braucht und müßte durch Abkommen gezwungen werden abzugeben. Sie will ja auch abgeben, aber sie will bestimmen, an wen und wieviel. Die Türkei beabsichtigt ja auch, Süßwasser im Fließbandverfahren mit riesigen Schutenschiffen an Israel zu verkaufen.

Die rot-grüne Koalition in Berlin sollte unbedingt die Hermeskredite in Höhe von 150 Millionen für dieses Wahnsinnsprojekt verweigern. Weil das Ganze unübersehbare ökologische Folgen hat und eine Gefahr für den Frieden, die Friedenspolitik wäre, wenn sich die Bundesregierung für einen Wasservertrag in dieser Region einsetzen würde, statt auf den Konflikt hin Politik zu machen.

Interview: Till Meyer